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Russlands vermeintlicher Föderalismus
Aus Echo der Zeit vom 10.10.2024. Bild: Imago
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Föderalismus in Russland Putin baut Autonomie der Regionen ab – ein Bericht aus Tatarstan

Die Russische Föderation sei ein brüderlicher Zusammenschluss vieler gleichberechtigter Völker. Dieses Narrativ bemüht der Kreml verstärkt. Tatsächlich wurde die Eigenständigkeit der Regionen unter Putin jedoch stufenweise abgebaut.

Der Kasaner Kreml, die weisse Festung mit einer prächtigen Moschee, steht auf einer Anhöhe an der Wolga. Bei der U-Bahn-Station im Innern des Hügels werden die Durchsagen auf drei Sprachen vorgetragen: auf Russisch, Englisch und Tatarisch.

Doch laut Schätzungen spricht nur rund die Hälfte der Tatarinnen und Tataren fliessend Tatarisch. In der Stadt hört man die Sprache selten. In offiziellen Situationen wird fast ausschliesslich Russisch gebraucht.

Tatarinnen und Tataren: Russlands grösste ethnische Minderheit

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Die meisten Tatarinnen und Tataren sind sunnitische Muslime. Ihre Vorfahren kamen im Mittelalter als Nomaden ans Ufer der Wolga. Heute sind sie Russlands grösste ethnische Minderheit, in Tatarstan selbst leben etwa zwei Millionen Tataren. Die tatarische Sprache ist mit Türkisch verwandt.

Viele Bewohner hielten Tatarisch für eine «Dorfsprache», für komplexe Themen ungeeignet. Das sagt Radif Kaschapow, Musiker und Chef eines Plattenlabels für Bands, die auf Tatarisch singen. Das liege auch daran, dass Tatarisch, von den Behörden vernachlässigt werde, obwohl es neben Russisch zweite Amtssprache in Tatarstan ist.

«Strassenschilder etwa müssten eigentlich in beiden Sprachen sein», sagt Kaschapow. «Aber oft sind sie nur auf Russisch. Dasselbe gilt für amtliche Webseiten. Dabei ist die Sprache für mich das wichtigste Merkmal der tatarischen Identität.»

Föderation existiere vor allem auf dem Papier

Rkail Sajdullin, Abgeordneter für «Einiges Russland», die Partei von Wladimir Putin, meint: «Das Ding ist – das Föderative in der Russischen Föderation existiert vor allem auf dem Papier. Aber das Föderative wird sich durchsetzen, für die Zukunft sehe ich nur Gutes!»

Tatarstan wurde beinahe zu einem eigenen Staat

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Das Nationalbewusstsein der Tatarinnen und Tataren war immer ausgeprägt. Und beinahe hätten sie einen eigenen Staat gekriegt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion stimmte eine Mehrheit in Tatarstan bei einem Referendum für die Unabhängigkeit von Russland. Moskau schlug darauf einen Kompromiss vor: Tatarstan würde eine Teilrepublik Russlands bleiben, aber breite Autonomie geniessen.

Doch die tatarischen Sonderrechte wurden vom Kreml schrittweise aufgehoben – insbesondere nach der Machtübernahme von Wladimir Putin. Tatarstans Recht, eigene Steuern zu erheben, wurde abgeschafft, die Kompetenzen des lokalen Parlaments beschnitten. Seit 2017 gilt die tatarische Sprache an den Schulen in Tatarstan nur noch als Freifach.

Dabei gibt es schon Dinge, die Rkail Sajdullin schlecht findet. 2022 stellte er sich gegen die Forderung aus Moskau, der höchste Amtsträger in Tatarstan solle sich nicht mehr «Präsident» nennen, sondern sei nur ein «Oberhaupt», wie die Gouverneure in anderen Regionen. In Russland gebe es nur einen Präsidenten, sagte der Kreml damals.

Oppositionspartei weitgehend handlungsunfähig

Rkail Sajdullin äussere sich im Rahmen des Sagbaren, meint Ruslan Sinatullin von der Oppositionspartei Jabloko. «Was er sagt, ist wohl auch vorher abgesprochen», so der Oppositionspolitiker. Seine Partei wurde zwar noch nicht verboten, aber seit Beginn des Ukraine-Kriegs weitgehend handlungsunfähig gemacht. Kremltreue Politiker wie Sajdullin dürften aber milde Kritik üben. Das sei sogar gewollt.

«In Tatarstan muss man die Souveränität ansprechen», sagt er. «Ein Teil der Bevölkerung hätte gern mehr Autonomie. Die echten Aktivisten sind schon längst im Exil. Aber der Kreml versteht, dass man das Anliegen zumindest abbilden muss.»

Auch Eliten wünschen sich insgeheim Autonomie zurück

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Das Anliegen für mehr Autonomie abzubilden, sei zudem auch im Interesse der lokalen Elite. Am Ende fügten sie sich den Diktaten aus Moskau. Aber insgeheim wünschten sie sich die Autonomie zurück.

«Für die Elite ist es eine Erniedrigung, dass das Zentrum sie so entmachtet hat», sagt Oppositionspolitiker Ruslan Sinatullin. «Früher konnten sie ihre Leute in der Justiz platzieren, im Geheimdienst, in der Staatsanwaltschaft. Und aus Tatarstans Industrie konnten sie sich abzweigen, was sie wollten. Jetzt ernennt Moskau diese Leute.»

Tatarstan ist also weit entfernt von der Zeit, als sein Volk die Unabhängigkeit wählte. Ein immer strengerer Kreml duldet in den Regionen kaum mehr Selbstbestimmung.

Stolze Tataren wie der Musiker Radif Kaschapow denken heute nicht an ein unabhängiges Tatarstan. Kaschapow will nur, dass die Russische Föderation hält, was ihr Name verspricht. «Die Tataren sind ein wichtiger Teil des multiethnischen Russlands», sagt Kaschapow. «Die Multikulturalität wäre einer der Reize von Tatarstan. Aber man macht es uns nicht leicht, diese auszuleben.»

Echo der Zeit, 10.10.2024, 18 Uhr;reim;fulu

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