Der Kasaner Kreml, die weisse Festung mit einer prächtigen Moschee, steht auf einer Anhöhe an der Wolga. Bei der U-Bahn-Station im Innern des Hügels werden die Durchsagen auf drei Sprachen vorgetragen: auf Russisch, Englisch und Tatarisch.
Doch laut Schätzungen spricht nur rund die Hälfte der Tatarinnen und Tataren fliessend Tatarisch. In der Stadt hört man die Sprache selten. In offiziellen Situationen wird fast ausschliesslich Russisch gebraucht.
Viele Bewohner hielten Tatarisch für eine «Dorfsprache», für komplexe Themen ungeeignet. Das sagt Radif Kaschapow, Musiker und Chef eines Plattenlabels für Bands, die auf Tatarisch singen. Das liege auch daran, dass Tatarisch, von den Behörden vernachlässigt werde, obwohl es neben Russisch zweite Amtssprache in Tatarstan ist.
«Strassenschilder etwa müssten eigentlich in beiden Sprachen sein», sagt Kaschapow. «Aber oft sind sie nur auf Russisch. Dasselbe gilt für amtliche Webseiten. Dabei ist die Sprache für mich das wichtigste Merkmal der tatarischen Identität.»
Föderation existiere vor allem auf dem Papier
Rkail Sajdullin, Abgeordneter für «Einiges Russland», die Partei von Wladimir Putin, meint: «Das Ding ist – das Föderative in der Russischen Föderation existiert vor allem auf dem Papier. Aber das Föderative wird sich durchsetzen, für die Zukunft sehe ich nur Gutes!»
Dabei gibt es schon Dinge, die Rkail Sajdullin schlecht findet. 2022 stellte er sich gegen die Forderung aus Moskau, der höchste Amtsträger in Tatarstan solle sich nicht mehr «Präsident» nennen, sondern sei nur ein «Oberhaupt», wie die Gouverneure in anderen Regionen. In Russland gebe es nur einen Präsidenten, sagte der Kreml damals.
Oppositionspartei weitgehend handlungsunfähig
Rkail Sajdullin äussere sich im Rahmen des Sagbaren, meint Ruslan Sinatullin von der Oppositionspartei Jabloko. «Was er sagt, ist wohl auch vorher abgesprochen», so der Oppositionspolitiker. Seine Partei wurde zwar noch nicht verboten, aber seit Beginn des Ukraine-Kriegs weitgehend handlungsunfähig gemacht. Kremltreue Politiker wie Sajdullin dürften aber milde Kritik üben. Das sei sogar gewollt.
«In Tatarstan muss man die Souveränität ansprechen», sagt er. «Ein Teil der Bevölkerung hätte gern mehr Autonomie. Die echten Aktivisten sind schon längst im Exil. Aber der Kreml versteht, dass man das Anliegen zumindest abbilden muss.»
Tatarstan ist also weit entfernt von der Zeit, als sein Volk die Unabhängigkeit wählte. Ein immer strengerer Kreml duldet in den Regionen kaum mehr Selbstbestimmung.
Stolze Tataren wie der Musiker Radif Kaschapow denken heute nicht an ein unabhängiges Tatarstan. Kaschapow will nur, dass die Russische Föderation hält, was ihr Name verspricht. «Die Tataren sind ein wichtiger Teil des multiethnischen Russlands», sagt Kaschapow. «Die Multikulturalität wäre einer der Reize von Tatarstan. Aber man macht es uns nicht leicht, diese auszuleben.»