Täglich verlassen 20 Züge das Erzbergwerk in Kiruna Richtung Norden. Jeder Zug ist fast einen Kilometer lang, die Waggons sind mit tausenden Tonnen Eisenerz beladen.
So gelangen allein auf diesem Weg pro Jahr fast 20 Millionen Tonnen dieses Rohstoffes in den norwegischen Atlantikhafen in Narvik, wo er in Lastschiffe umgeladen wird.
Kiruna liegt fast 1300 Kilometer nördlich der schwedischen Hauptstadt Stockholm und ist seit Jahrzehnten eine Bergbau-Stadt.
Doch in den letzten Jahren hat sich der lukrative Abbau des Eisenerzes kilometerweit in den Untergrund gefressen. «Wir wissen von Vorkommen, die für mindestens 40 weitere Jahre reichen», sagt Anders Lindberg, der Sprecher des staatlichen Bergwerkunternehmens LKAB.
«Mit diesen guten Aussichten und aus Rücksicht auf das Klima haben wir uns entschlossen, künftig ohne schädliche Emissionen Erz zu fördern – und dabei mit der Stahlindustrie eng zusammenzuarbeiten», betont Lindberg, dessen Unternehmen dem schwedischen Staat umgerechnet mehrere Milliarden Franken an Gewinnen abliefert. «Wir stehen vor einer gigantischen Umstellung», so Lindberg.
Von der Dreckschleuder zum Ökovorreiter
In den kommenden Jahren wird der Abbau des Erzes mit Strom aus der in Nordschweden reichlich vorhandenen Wasserkraft elektrifiziert. Statt wie heute noch mit dreckiger Kohle wird dem Eisenerz der Sauerstoff durch Zugabe von Wasserstoff entzogen. Schliesslich werden auch die Landtransporte gänzlich fossilfrei, die Schmelzwerke wiederum werden mit Wasserkraft elektrifiziert – und es entsteht emissionsfreier Stahl.
Die Menschen hier im Norden sehen diese Veränderung sehr positiv.
Tatsächlich hat diese Entwicklung weitreichende Folgen für das globale Geschäft mit dem Stahl und auch für den Klimaschutz. Allein in Schweden verursachen die Bergwerkbranche und die damit verbundenen Industrien über ein Drittel aller klimaschädlichen Emissionen.
Mit der begonnenen Umstellung auf fossilfreie Produkte ziehen nun zahlreiche Techfirmen, Batteriehersteller, aber auch neue Akteure in der Stahlproduktion in den Norden Schwedens und etablieren sich hier. Die Prognosen sind vielversprechend: Der bislang wenig beachteten Region Europas wird ein jahrzehntelanger Wirtschaftsboom vorausgesagt.
Aus Sicht des Industrievertreters ist die Umstellung sehr gut angelaufen: «Die Menschen hier im Norden sehen diese Veränderung sehr positiv», sagt LKAB-Sprecher Lindberg.
Neues Rathaus mit vielen Mängeln
Wenige Kilometer vom Hauptsitz des staatlichen Bergwerkes entfernt sitzt der Bürgermeister von Kiruna, Stefan Sydberg, im Lichthof seines nigelnagelneuen Rathauses.
Dieses wurde vom Bergwerkunternehmen finanziert, weil das alte Rathaus, ebenso wie grosse Teile des bisherigen Stadtzentrums von Kiruna, abgerissen wurden. Grund: die Ausweitung der Erzmine bis unter die Altstadt.
Bürgermeister Sydberg zeigt sich zufrieden mit dem begonnenen Umzug seiner Stadt, selbst wenn das Dach des 50 Millionen Franken teuren Rathauses viele Mängel aufweist: «In den letzten Monaten musste dieses schon über 200 Mal geflickt werden», sagt Sydberg.
Die grösste Herausforderung des Bürgermeisters ist es jedoch ist, Platz zu finden für den Wiederaufbau seiner Stadt, die einige Kilometer weiter weg vom Erzbergwerk ziehen muss: «Die Gemeinde besitzt nur gerade ein halbes Prozent der gesamten Fläche von Kiruna, der Rest wird von Stockholm verwaltet.»
Gebrochene Versprechen
Gut 100 Kilometer weiter südlich, in Nordschwedens zweiter grossen Bergwerksstadt Gällivare sind die Spannungen und Konflikte der grossen Umstellung noch deutlicher zu spüren.
Mittelschullehrerin Anna Haapaniemi führt durch den Stadtteil Malmberget – zu Deutsch: Erzberg. Hier, unweit von riesigen Erdlöchern, welche der Tagebau mit sich gebracht hat, stand bis vor einer guten Woche ihr Haus.
«Das Bergwerk verschluckt immer mehr von unserem Lebensraum. Diese Umstellung ist sehr schmerzhaft und läuft gar nicht gut», sagt die 43-jährige Mutter von zwei Kindern. Als sie das Haus in Malmberget vor zehn Jahren kaufte, versprach das Bergwerkunternehmen, dass sie nicht von hier wegziehen müsse.
Die Neuausrichtung der Bergwerkindustrie in Nordschweden werde auf Kosten der Menschen vor Ort durchgeführt, sagt Haapaniemi.
Der Boom zieht weite Kreise
Vom eingeleiteten Ökowirtschaftsboom profitieren aber nicht nur traditionelle Bergwerk-Orte wie Kiruna und Gällivare, sondern auch Industriestädte wie Skellefteå. Der Ort an der Ostsee ist nicht gerade das, was sich Besucher und Besucherinnen unter einer schwedischen Bullerbü-Idylle vorstellen.
Hier, gut 800 Kilometer nördlich der Hauptstadt Stockholm, dominieren graue mehrstöckige Betonblöcke aus den Sechzigerjahren das Stadtzentrum. Dieses wird von der stark befahrenen vierspurigen Nord-Südautobahn E4 zerschnitten. Gut 70'000 Menschen leben hier. Der letzte Personenzug verliess vor über 30 Jahren den heute heruntergekommenen Bahnhof der Stadt.
Europas grösste Batteriefabrik
Trotzdem herrsche innerhalb des braunen Zweckbaus, der mit Rathaus angeschrieben ist, eine sehr gute Stimmung, betont die für Wirtschaftsfragen zuständigen Chefbeamtin Anja Palm: «Schon seit Längerem wissen wir, dass unsere Gemeinde über beste Zukunftsaussichten verfügt: Wir produzieren viel saubere Energie, haben begehrte Metalle im Boden, viel freies Umland und sind auf dem Seeweg leicht zu erreichen.»
Tatsächlich besitzt die Stadt eine Reihe von hochproduktiven Wasserkraftwerken entlang des mächtigen Skellefteå-Flusses und liegt unweit der mineralreichen Boliden-Bergwerke.
Und so überrascht es nicht, dass ein schwedischer Manager beim amerikanischen Tesla-Konzern Skellefteå für sein neues Projekt entdeckte: die grösste Batteriefabrik für Elektromobilität.
Bald ein Viertel mehr Einwohner
Ein in der Tat sehr gutes Matching und Timing, wie Anja Palm bei einem kurzen Ausflug vor die Stadttore unterstreicht: «Wir waren buchstäblich schon bereit, als diese neue Firma mit dem Namen Northvolt bei uns anklopfte», betont sie und blickt über einen 40 Fussballfelder grossen Bauplatz, auf dem seit einem Jahr rund um die Uhr gearbeitet wird.
Schon Ende dieses Jahres sollen hier die ersten Lithium-Batterien für Autohersteller wie Volvo und VW, aber auch für die Windkraftindustrie vom Band laufen.
Die bevorstehende Eröffnung der grössten Batteriefabrik Europas hat Folgen für die lange Zeit etwas vergessene Industriestadt im hohen Norden Schwedens: Die Stadtbevölkerung soll in den kommenden Jahren um fast 25 Prozent wachsen.
Das hat einen enormen Wohnbauboom ausgelöst – und die Stadt nimmt Milliarden Franken für den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur in die Hand.