Noch nie wollten so viele Flüchtlinge über den Ärmelkanal von Frankreich nach Grossbritannien gelangen wie letztes Jahr. Über 28’000 Personen haben den gefährlichen Weg in kleinen Booten auf sich genommen, wie die britische Nachrichtenagentur PA gestützt auf Behördendaten meldet. Die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger über Gründe, Probleme und Möglichkeiten.
SRF News: Über 28'000 Flüchtlinge haben 2021 die Route über den Ärmelkanal gewählt. Wie ist diese Zahl aus Ihrer Sicht einzuordnen?
Judith Kohlenberger: Andere Routen, die Geflüchtete bisher gewählt haben, um von Frankreich nach Grossbritannien zu kommen, sind covidbedingt viel schwieriger zu passieren. Das wären die Fähren oder der Landweg über den Eurotunnel. Sie weichen also auf den Seeweg aus. Zusätzlich gab es zu Beginn des Jahres 2020 einen starken covidbedingten Rückgang der Migration. Wir sehen jetzt eine entsprechende Pendelbewegung und einen Anstieg. Das muss man in Relation setzen.
Woher kommen diese Flüchtlinge?
Es gibt noch kein vollständiges Bild. Bei vielen dieser Geflüchteten handelt es sich um Sekundärmigrantinnen und -migranten: Menschen, die schon längere Zeit Aufenthalte in Transitländern, auch in europäischen, hatten. Es gibt sicherlich einen Anteil, der bereits einen Asylantrag gestellt hat, der abgelehnt wurde und die Menschen reisen dann häufig weiter.
Man muss auch sagen, dass sich gerade im vergangenen Jahr die Sicherheitslage global an vielen Hotspots verschärft hat, beispielsweise in Afghanistan oder in afrikanischen Ländern. Nicht unwesentlich ist auch der Community-Effekt.
Die neuesten Zahlen stammen vom britischen Innenministerium. Welches Interesse hat Grossbritannien an der Veröffentlichung dieser Zahlen?
Grossbritannien versucht, die Schuld an dieser Misere oder an dieser sogenannten Migrationskrise der EU und konkret Frankreich zuzuschieben. Da spielen auch andere aussenpolitische Konflikte, die schon länger am Schwelen sind, mit hinein: allen voran der Brexit oder auch der Streit um die Fischereigründe mit Frankreich.
Grossbritannien versucht, die Schuld an dieser Misere der EU und konkret Frankreich zuzuschieben.
Auch ein Grund ist die Tatsache, dass es bereits vor dem Ausstieg Grossbritanniens aus der EU ein Abkommen zwischen Grossbritannien und Frankreich gab, das die Verhinderung von Überfahrten von der französischen Küste betrifft. Grossbritannien unterstützt das Abkommen mit einer sehr hohen Geldsumme. Es gibt den Vorwurf, dass die Franzosen säumig wären und nicht genug tun würden, um die Küsten abzusichern.
Warum kommen Frankreich und Grossbritannien bei der Migrationsproblematik nicht weiter?
Weil man weiterhin auf ein Rezept in der Migrationspolitik setzt, das seit 2015 gezeigt hat, dass es nur minder tauglich dafür ist, Anträge auf einem niedrigen Niveau zu halten und gleichzeitig den Tod von Geflüchteten zu verhindern. Das Rezept lässt sich mit drei A zusammenfassen: Abschottung, Auslagerung und Ausweichung.
Solange die Fluchtursachen in den Herkunftsländern weiterbestehen, wird es auch Ankünfte geben.
Das ist eine schwierige Formel. Man schafft die Festung Europa: Man will die Ankünfte draussen halten, aber das Ganze ist nicht nachhaltig. Solange die Fluchtursachen in den Herkunftsländern weiterbestehen, wird es auch Ankünfte geben. Man kann damit rechnen, dass das mit der Klimakrise noch zunehmen wird. Man müsste ein System schaffen, wo es auch Möglichkeiten, zum Beispiel für afrikanische Migranten, gibt, um legal einreisen zu können.
Das Gespräch führte Vera Deragisch.