Die Hamas marschierte am 7. Oktober in Israel ein und startete einen Angriff auf ein Musikfestival. Beim Angriff hat die Hamas 260 Menschen ermordet, Frauen vor Ort vergewaltigt und in den Gazastreifen entführt. Augenzeugen berichteten gegenüber der jüdischen Zeitschrift «Tablet Mag», dass Frauen auf dem Gelände neben den Leichen ihrer Freunde vergewaltigt wurden. Laut Beat Gerber von Amnesty International ist sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Mädchen ein grausamer Bestandteil bewaffneter Konflikte.
SRF News: Wie viele Frauen sind Opfer von sexualisierter Gewalt?
Beat Gerber: Die Quantifizierung der Gewalt ist schwierig. Der Ausbruch neuer Kriege und die verstärkte Unterdrückung der Zivilbevölkerung beförderte in vielen Fällen die ungehinderte und ungestrafte Gewalt gegen Frauen und Mädchen, die oft als Kriegswaffe eingesetzt wurden.
Die Schmerzen und das Leid sind so gross, dass sie Folter gleichkommen.
Zu den Verbrechen gehörten Tötungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen oder sexuelle Sklaverei im Krieg. In Tigray allein wurden im jüngsten Konflikt Tausende von Frauen und Mädchen vergewaltigt, gefoltert und verstümmelt.
Welche Motive stecken hinter Vergewaltigungen in Konflikten?
Oft geht es um die Demütigung und Einschüchterung des Gegners. Frauen und ihre Männer sollen erniedrigt werden, um die Gemeinschaft, der sie angehören, zu terrorisieren. Die Taten haben massive Auswirkungen auf die Betroffenen. Die Schmerzen und das Leid sind so gross, dass sie einer Folter gleichkommen.
Ist in gewissen Konfliktgebieten sexualisierte Gewalt mehr verbreitet als in anderen?
Sexualisierte Gewalt kann nicht auf einzelne kulturelle Kontexte oder Länder reduziert werden. Sie findet sowohl durch russische Soldaten in der Ukraine als auch durch eritreische Kämpfer in Äthiopien statt.
Schlimmste Formen sexualisierter Gewalt durch Soldaten gab es namentlich auf dem europäischen Kontinent, durch deutsche und sowjetische Truppen im Zweiten Weltkrieg oder in den Balkankriegen der 1990er-Jahre.
Solche Verbrechen können gezielt von Kommandierenden angeordnet werden.
Ein gemeinsames Muster findet sich in der Entmenschlichung des Gegners und der Verrohung von Kämpfern. Das sehen wir auch im Konflikt zwischen Israel und den Palästinenserinnen und Palästinensern. Eine Rhetorik des Hasses auf beiden Seiten macht alle Angehörigen des Gegners zum Feind, den es mit allen Mitteln zu vernichten gilt.
Welche Rolle spielen militärische Befehlshaber?
Oft sind Vergewaltigungen, Verstümmelungen oder Erniedrigungen von Frauen Teil einer Kriegstaktik. Solche Verbrechen können gezielt von Kommandierenden angeordnet werden oder sie geschehen durch Ermutigung oder absichtliches Wegsehen der Befehlshaber. Befördert werden sie auch durch eine verbreitete Straflosigkeit.
Was ist bis jetzt zu den Vergewaltigungen der israelischen Frauen und Geiselnahmen durch die Hamas bekannt?
Amnesty hat kurz nach dem Angriff das Video- und Bildmaterial verifiziert und ausgewertet und mit Angehörigen und Opfern gesprochen. Die Bilder sind zutiefst schockierend und menschenverachtend. Ein beunruhigendes Video zeigt etwa, wie bewaffnete Männer eine Frau durch das Zentrum von Gaza führen und als Beute präsentieren.
Das ganze Ausmass der Verbrechen ist noch nicht erfasst. Klar ist: Der direkte Angriff auf Zivilpersonen, die Entführungen und Geiselnahmen sind Kriegsverbrechen und sollten vom internationalen Strafgerichtshof umfassend untersucht und verfolgt werden.
Das Gespräch führte Xenia Bertschmann.