Úrsula könnte noch leben. Die 18-Jährige hatte alles richtig gemacht: Mehrfach hatte sie Anzeige erstattet gegen ihren Ex-Freund, einen Polizisten. Und sie rief auf Social Media um Hilfe: «Wenn ich nicht zurückkomme, schlagt alles kurz und klein», war ihre letzte Nachricht auf Twitter.
Ihre Mutter, Patricia Nasutti, hat sich den Satz auf den rechten Unterarm tätowiert. Matías Martínez erstach Úrsula am 8. Februar. «Der Staat hat mir meine Tochter genommen», sagt die Mutter.
«An Weihnachten sassen wir noch gemeinsam am Küchentisch», sagt der Vater, «erst nach dem Mord kam alles andere heraus». «Alles andere», das sind Anzeigen, die schon vorlagen, bevor Martínez Mitte 2020 mit Úrsula zusammenkam. Eine wegen Gewalt gegen eine Ex-Freundin aus dem Jahr 2017. Martínez hatte sie geschlagen und mit der Dienstwaffe bedroht. Kurzzeitig wurde ihm damals die Waffe abgenommen, danach war er wieder normal im Dienst. Zehn Tage nach dem Mord an Úrsula kam der Richterspruch: vier Jahre Haft.
Die Justiz, zu langsam – auch in einem anderen Fall: Am 5. Januar beantragte ein Staatsanwalt die sofortige Verhaftung von Martínez. Er sah es als erwiesen an, dass dieser ein minderjähriges, behindertes Mädchen vergewaltigt haben soll. Doch Januar ist in Argentinien Hochsommer. Der zuständige Richter unterbrach die Justizferien nicht. Erst am 11. Februar wurde der Haftbefehl unterzeichnet. Da sass Martínez schon im Gefängnis, wegen des Mordes an Úrsula. Er wurde direkt am Tatort verhaftet.
«Wer schützt uns vor der Polizei?»
«Der Fall Úrsula ist keine Ausnahme, er ist die Regel», sagte Frauenministerin Elisabeth Gómez Alcorta nach der Tat. Der Präsident lud die Eltern ins Regierungsgebäude ein. Der Papst rief an. «Wer schützt uns vor der Polizei?», stand auf vielen der Transparente bei einem Grossprotest in Buenos Aires nach dem Mord an Úrsula. Denn: Fast jeden Tag wird in Argentinien eine Frau ermordet. Nach aktuellen Zahlen waren zwischen Januar und August 2021 13 Prozent der Mörder Polizisten oder Ex-Polizisten.
Auch Barbi, Bárbara Zabala, könnte noch leben. Sie wurde an ihrem 19. Geburtstag von ihrem Ex-Freund Brian David Dirassar, einem Polizisten, auf dem Hauptplatz ihrer Heimatstadt Pehuajó ermordet. Auch Barbi hatte mehrfach Anzeige erstattet. Óscar Zabala, Barbis Vater, wirft der Polizei vor, zum Tatzeitpunkt am 6. Dezember 2019 bewusst weggeschaut zu haben.
«Es gibt Aufzeichnungen der Funkgespräche zwischen Polizisten in zwei Streifenwagen. Einer sagt: ‹Hier läuft die Tochter von Zabala.› Der andere: ‹Hier läuft Dirassar.› Der Ex-Freund hatte ein Annäherungsverbot auf 100 Meter. Doch ein Wagen fuhr in eine Richtung weg, der andere in die andere. Als Vater denke ich: Das war kein Zufall.»
Wenn es bei einer verbotenen Annäherung sechs Monate Gefängnis gäbe, ich glaube, das würde abschrecken.
Der Vater ist Sprengstoffexperte und war bis zu Barbis Tod selbst im Polizeidienst. Er sammelt zurzeit Unterschriften für ein Gesetzesprojekt. Es sieht ein sofortiges, psychologisches Gutachten bei einer Gewaltanzeige vor – bei Gefahr wäre eine Verhaftung des Aggressors möglich.
Auch der Staatsanwalt im Fall Úrsula wünscht sich härtere Gesetze bei Gewalt gegen Frauen. «Wenn ein Rayonverbot verletzt wird, steht darauf keine Gefängnisstrafe. Wenn es bei einer verbotenen Annäherung sechs Monate Gefängnis gäbe, ich glaube, das würde abschrecken», sagt Sergio Terrón.
«Wen rekrutieren wir eigentlich für die Polizei?»
Es fehle der Justiz an Personal. Die Liste mit Gerichtsverfahren seiner Staatsanwaltschaft reicht bereits jetzt bis ins Jahr 2023. «Wir sind völlig überlastet, da kann ich keine gute Arbeit leisten. Und die Schutzmassnahmen, die wir zur Verfügung haben, sind symbolisch. Wenn eine Frau den Panikknopf betätigt, ist es vielleicht schon zu spät. Und um allen, die Anzeige erstatten, Personenschutz zu geben, fehlt mir das Personal.»
Warum war Matías Martínez nicht im Gefängnis, als er Úrsula erstach? «Dazu laufen interne Nachforschungen in der Justiz», sagt der Staatsanwalt. «Ich frage mich allerdings auch: Wen rekrutieren wir eigentlich für die Polizei?»
Polizei hat ein Machismus-Problem
«Wir wissen, es gibt ein schweres Problem in der Institution. Jedes Mal, wenn es zu einer Tat kommt, die uns weh tut, fühlen wir uns verantwortlich. Aber wir arbeiten täglich daran, die Realität zu verändern», sagt Agustina Baudino, Direktorin für Menschenrechts- und Genderpolitik im Sicherheitsministerium der Provinz Buenos Aires.
Sie ist zuständig dafür, die Polizeibeamten der Provinz, eine Region so gross wie Polen, mit Schulungen für Themen wie Gewalt gegen Frauen zu sensibilisieren. Denn tatsächlich hat die Polizei dort ein Machismus-Problem.
Fast 6000 Beamte in dieser Provinz wurden den letzten sieben Jahren wegen Gewalt gegen Frauen angezeigt. Acht von zehn sind nach wie vor im Dienst. «26’000 von 90’000 Polizisten haben inzwischen eine Schulung erhalten», sagt Baudino. «Damit beginnen wir schon in der Ausbildung.» Mit ersten Erfolgen.
Frauen, die Anzeige erstatten, haben in der Vergangenheit oft hören müssen: ‹Regeln Sie das doch zu Hause, das ist eine private Angelegenheit!›
Im Mai zeigten Polizeikadettinnen einen Generalkommissar an. Die Polizeischülerinnen gaben an, er habe ihnen geraten, mit «Vorgesetzten ‹zu ficken›, um eine bessere Position zu haben». Erstmals plant das Ministerium gesonderte Schulungen und eine psychologische Begleitung für Beamte, die wegen Gewalt an Frauen angezeigt wurden und nach wie vor im Dienst sind.
Eine der Mitbegründerinnen der Ni-una-menos-Frauenbewegung, die für Frauenrechte und gegen Gewalt kämpft, ist die Journalistin Mariana Carbajal: «Frauen, die Anzeige erstatten, haben in der Vergangenheit oft hören müssen: ‹Regeln Sie das doch zu Hause, das ist eine private Angelegenheit!› Das ändert sich zum Glück langsam, die Frauen werden ernster genommen.»
Doch, wenn der Gewalttäter Polizist ist, sei das Misstrauen der Frauen gegen die Institutionen gross – und das mit Grund. «Wir beobachten immer wieder eine Komplizenschaft in der Polizei. Anzeigen werden heruntergespielt oder gar nicht registriert. Beweise werden vernichtet.»
Rojas, die Heimatstadt der ermordeten Úrsula, ist auch Monate nach dem Mord nicht zur Ruhe gekommen. Immer wieder gibt es Proteste vor der Polizeiwache. Die Mutter äussert ausserdem einen schwerwiegenden Verdacht gegen die Polizei. «Jemand hat Úrsula am Tatort einen Finger abgeschnitten und einen Goldring gestohlen. Erst nachdem wir Anzeige erstattet haben, ist der Ring wieder aufgetaucht. Angeblich hat ihn ein Landstreicher gefunden.»
«Ich will, dass alle, die für den Femizid, für den Tod von Úrsula Verantwortung tragen, dafür bezahlen. Richter, Staatsanwälte, Politiker, alle», sagt Vater Adolfo Bahillo. Die Eltern wollen alle verklagen, die den Mord hätten verhindern können. Und damit ein Zeichen setzen: Damit es keine neuen Úrsulas gibt.