Alya Lykhina stillt ihr Baby in einem Café im Zentrum von Buenos Aires. Die Moskauerin kam letztes Jahr schwanger nach Argentinien, mit ihrer ganzen Familie. «Ich habe sechs Kinder. Die Kleine hier ist in Buenos Aires geboren, die anderen in Russland», sagt Alya.
Die kleine Tanisha ist die erste Argentinierin und das erste Mädchen der Familie. Als sie letzten September auf die Welt kam, beschloss in Russland Wladimir Putin gerade die Mobilmachung. Doch Tanishas fünf Brüder und Vater Vitali waren da schon in Buenos Aires – weit weg von der Militärpflicht und dem Krieg in der Ukraine.
Militärdienst und Pass als Kriterium
Der Krieg habe beim Auswanderungsentscheid eine wichtige Rolle gespielt, gibt Mutter Alya offen zu. Sie wolle nicht, dass ihre Söhne irgendwo kämpfen müssten, sagt die 41-Jährige. Auch deshalb hätten sie sich für Argentinien entschieden: In dem südamerikanischen Land ist der Militärdienst anders als in Russland nicht obligatorisch.
«Das ist gut für meine Jungs», sagt Alya, und auch für ihren Mann Vitali. Der 43-jährige ist Triathlon-Coach und mehrfacher Ironman-Absolvent. Als Eltern eines in Argentinien geborenen Kindes können sich Alya und Vitali in Argentinien einbürgern lassen. Auch die Söhne können Argentinier werden, sobald sie volljährig sind.
Der argentinische Pass gehört zu den «stärksten» Südamerikas und gewährt visafreie Einreise in 171 Länder weltweit. Hinzu kommt: In Argentinien gibt es eine bedeutende russische Exil-Gemeinde, die den Neuankommenden das Einleben erleichtert.
«Im 19. und 20. Jahrhundert zogen insgesamt rund 300'000 Russinnen und Russen nach Argentinien», erzählt Sofía Ehrenhaus in einer Beiz im schicken Stadtteil Palermo. Die Historikerin hat an der Universidad Católica de Argentina die russische Einwanderungsgeschichte erforscht.
Erst kamen die Einwanderer aus dem russischen Zarenreich nach Argentinien, dann aus der Sowjetunion. «Wolgadeutsche, polnische Juden, ukrainische Bauern kamen auf der Suche nach Ackerland und besseren Lebensbedingungen nach Argentinien», erzählt Sofía. «Sie flohen vor der Russifizierung, vor Repressionen oder Antisemitismus».
Heute sind es der Militärdienst und der starke argentinische Pass, die Russinnen nach Argentinien bringen. Ein Kind in Argentinien zu bekommen und sich dann einbürgern zu lassen, ist nicht verboten – doch die argentinische Regierung will verhindern, dass Schlepperbanden für die Frauen die Reisen organisieren und daran Geld verdienen.
Von den über 10'000 schwangeren Russinnen, die letztes Jahr nach Argentinien kamen, haben 7000 das Land bereits wieder verlassen, viele wollen in die Europäische Union. Und nicht immer sind die Beweggründe harmlos: Anfang Jahr wurden in Slowenien zwei mutmassliche russische Spione verhaftet – sie hatten argentinische Pässe.
Wir lieben Argentinien. Das Land gibt meiner Familie und mir viel. Wir wollen Argentinien auch etwas zurückgeben.
Argentiniens Regierung hat seither die Kontrollen verschärft: Nur, wer wirklich in Argentinien lebt, soll den Pass erhalten. Wer einen Wohnsitz mithilfe von zwielichtigen Agenturen nur vortäuscht, hingegen nicht.
Alya sagt, ihre Familie wolle nun in Argentinien bleiben, Spanisch lernen und etwas beitragen. Sie wirkt überzeugt: «Wir lieben Argentinien. Das Land gibt meiner Familie und mir viel. Wir wollen Argentinien auch etwas zurückgeben.»