Zehn ehemalige Militärs und Polizisten wurden am Donnerstag in Argentinien für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt. Weitere neun bekamen zum Teil hohe Gefängnisstrafen. Es geht um die Gräueltaten während der Militärdiktatur (1976-1983). Es sind nicht die ersten Verurteilungen in diesem Kontext. Für Südamerika sei das aussergewöhnlich, sagt ARD-Korrespondentin Anne Herrberg.
SRF News: Was wird den Verurteilten vorgeworfen?
Anne Herrberg: Schwerste Menschenrechtsverbrechen. Es geht um Fälle von Verschwindenlassen von Personen, von Folter, von Mord. Und es geht auch um die systematische Taktik der Militärdiktatur, schwangeren Gefangenen die Babys geraubt und diese den Militärfamilien zur Adoption gegeben zu haben. Verurteilt wurden auch Militärs, die an sogenannten Todesflügen teilgenommen haben. Auch das war eine brutale, systematische Praxis. Gefangene wurden betäubt, in Flugzeuge geladen und über dem offenen Meer oder dem Rio de la Plata einfach abgeworfen, um sie sozusagen über dem Wasser zu entsorgen.
Wie bedeutend sind die Urteile für die Aufarbeitung dieser Zeit?
Man spricht von einem Megaprozess. Das heisst, da werden Verbrechen aufgearbeitet, die an rund 350 Opfern begangen worden sind. Das Besondere daran ist, dass es Prozesse sind, wo jedem einzelnen Angeklagten das einzelne Verbrechen nachgewiesen werden muss. Man muss sich vorstellen, was für eine juristische Arbeit dahinter steckt.
Dass diese Gerechtigkeit jetzt gesprochen wurde, ist für die Angehörigen sehr wichtig.
Diese Prozesse laufen oft seit Jahren. Und die Opfer, um die es dabei geht, haben Familienangehörige, die noch leben. Diese verfolgen diese Prozesse auch und warten seit Jahren auf Gerechtigkeit. Und dass diese Gerechtigkeit jetzt gesprochen wurde, das ist sehr wichtig.
Das Land arbeitet seine Geschichte also akribisch auf?
Ja. Und das will ich auch hervorheben, weil ich das für etwas sehr Besonderes halte, das man in den wenigsten Ländern der Welt beobachten kann. In Südamerika gab es ja in vielen Ländern Militärdiktaturen. Aber tatsächlich ist Argentinien da vorbildlich. Viele Jahre lang galten Amnestiegesetze. Diese wurden 2005 vom Obersten Gerichtshof aufgehoben. 2009 begannen dann die ersten Prozesse.
Mittlerweile wurden über 1000 ehemalige Militärs und Polizeikräfte verurteilt. Insofern kann man die Rolle Argentiniens, dass es aus eigener Kraft seine Geschichte juristisch aufarbeitet, wirklich herausstreichen. Und diese Aufarbeitung ist inzwischen Staatspolitik. Die Gesellschaft setzt sich tatsächlich mit ihrer Vergangenheit auseinander.
Warum funktioniert das in Argentinien und anderswo nicht?
Da kommen mehrere Sachen zusammen. Auf der einen Seite sind diese Verbrechen ja hauptsächlich oder zum Grossteil in Buenos Aires verübt worden, das heisst in einer Stadt, in der es ein hohes Bildungsniveau gab, in der man auch viele Kontakte zum Ausland hatte. Das heisst, viele sind ins Exil gegangen und es wurde dann vom Ausland her Druck gemacht, um auf diese Verbrechen aufmerksam zu machen. Auf der anderen Seite gibt es die Menschenrechtsorganisation der «Madres de Plaza de Mayo».
Während der Zeit, als Argentinien Amnestiegesetze herrschten, haben sie nie locker gelassen.
Sie ist eine der berühmtesten Menschenrechtsorganisationen Südamerikas. Sie besteht aus Müttern von Verschwundenen, die schon während der Militärdiktatur auf die Plaza de Mayo gegangen sind und Aufklärung gefordert haben über das Schicksal ihrer Kinder. Und auch während der Zeit, als in Argentinien Amnestiegesetze herrschten, haben sie nie locker gelassen und haben immer auf die Aufarbeitung gedrängt.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.