Bei Caroline Mala Corbin klingelt derzeit fast pausenlos das Telefon. Die Verfassungsrechtlerin der University of Miami ist gefragt – ihre Spezialisierung ist nämlich ziemlich einzigartig: «Ich lehre Verfassungsrecht und bin spezialisiert auf reproduktive Rechte, die Redefreiheit und religiöse Rechte.» Also auf so ziemlich alles, was mit dem Umsturz des nationalen Abtreibungsrechts durch das Oberste Gericht in den USA zu tun hat.
Die Auswirkungen dieses Urteils seien weitreichend, sagt Corbin. Das Oberste Gericht sei in den USA der letztinstanzliche Schiedsrichter darüber, wie die Verfassung zu deuten sei. Die Urteile des Gerichts sind deshalb nicht nur wegweisend für die Sache an sich, sondern auch für die Auslegung des Rechts insgesamt.
In Geschichte verwurzelte Grundrechte
Mindestens so interessant, wie das Urteil selbst, ist für Juristinnen und Juristen deshalb immer auch die Frage, wie das Gericht sein Urteil begründet. Das zeigt sich in den «Opinions of the Court», die die Urteile begleiten: Es sind oft mehrere Hundert Seiten lange Schreiben, in denen die einzelnen Richterinnen und Richter ihr Urteil begründen.
Im Fall der Abtreibungen hat das Gericht argumentiert, dass nur ein Grundrecht sei, was explizit in der Verfassung steht, oder tief verwurzelt ist in der amerikanischen Geschichte. Das nationale Abtreibungsrecht sei das nicht, befand das Gericht. Corbin kann damit wenig anfangen: Die Mehrheit der Richterinnen und Richter habe in ihrer Begründung nur das herausgepickt, was gegen einen Zugang zu Abtreibungen spreche.
Moralvorstellungen aus dem 19. Jahrhundert
«Das ist Quatsch», sagt Corbin, «denn Bemühungen von Frauen, in den USA ungewollte Schwangerschaften oder Fehlgeburten zu verhindern, reichen mindestens so lange zurück, wie es das Land gibt». Die Argumentation des Gerichts lässt bei Frauenrechtlerinnen und Bürgerrechtlern die Alarmglocken klingeln. «Zu Recht», sagt Juristin Corbin. «Es steht ausser Frage, dass das für Rechte, die erst in jüngster Zeit anerkannt wurden, ein Risiko darstellt.»
Weshalb sollen unsere Grundrechte heute davon abhängig sein, was Männer im 19. Jahrhundert nach dem Bürgerkrieg entschieden haben?
Denn die gleichgeschlechtliche Ehe, die Ehe zwischen Schwarzen und Weissen, der Zugang zu Verhütungsmitteln – all diese Rechte stehen nicht in der Verfassung, sondern sie basieren auf Supreme-Court-Urteilen. Und der Supreme Court darf alte Fälle jederzeit wieder aus der Schublade holen und seine früheren Urteile umstossen.
Grundrechte an Moralvorstellungen des 19. Jahrhunderts zu messen, sei bizarr, sagt Corbin. «Weshalb sollen unsere Grundrechte heute davon abhängig sein, was Männer im 19. Jahrhundert nach dem Bürgerkrieg entschieden haben? Sie dachten, dass Frauen kein Wahlrecht haben sollen und dass verheiratete Frauen keinen Besitz haben dürfen. Warum entscheiden die darüber, welche Grundrechte wir heute haben?»
So lange sich an der konservativen Mehrheit im Supreme Court nichts ändert, werden Juristinnen und Juristen wie Corbin solche Fragen weiter beschäftigen.