Marcelo Schettini war am 8. Januar 2023 im Dienst, als tausende Anhänger von Ex-Präsident Jair Bolsonaro staatliche Institutionen in der brasilianischen Hauptstadt stürmten. Der Sicherheitschef des Obersten Gerichts zeigt auf eine grosse Monitorwand: «Sie kamen von hier, von da drüben. Der Angriff war geplant und koordiniert.»
Parlament, Präsidentenpalast und Gericht wurden verwüstet. Schettini zeigt stolz die nach dem Angriff neu erworbene Technologie: 300 Kameras könnten mithilfe künstlicher Intelligenz Gesichter und verdächtige Bewegungen erkennen.
Oft wird dieser Tag mit dem Angriff aufs Kapitol in Washington verglichen: Damals war Ex-Präsident Bolsonaro gerade abgewählt worden – wie Donald Trump hatte auch er zuvor das Wahlsystem angezweifelt. Doch während Trump am 20. Januar wieder Präsident wird, darf Bolsonaro bis 2030 kein öffentliches Amt bekleiden. Mehr noch: Bald könnte er wegen eines versuchten Staatsstreichs angeklagt werden.
Die Justiz handelt, der Hass wächst
Neue Erkenntnisse zeigen: Neben einem versuchten Staatsstreich war auch die Ermordung von Präsident Lula da Silva und des obersten Richters Alexandre de Moraes geplant. Der Mob, der die Institutionen stürmte, forderte eine Machtübernahme durch das Militär.
Im November versuchte ein Bolsonaro-Anhänger, gekleidet wie die Comic-Figur Joker, einen Sprengstoffanschlag auf das Oberste Gericht zu verüben. Er kam nicht durch, eine der Bomben zündete, der Täter starb. Seine Ex-Frau sagte nach dem Attentat, ihr Mann «sei wahnsinnig geworden, als Bolsonaro die Wahl verlor».
Der Mann kam aus einer Stadt in Südostbrasilien. Der Bürgermeister stammt aus Bolsonaros Partei, der Partido Liberal. Er sieht in dem Attentäter einen Einzeltäter. «Ein einsamer Wolf», sagt er SRF. Eine Umfrage im Stadtzentrum zeigt: Viele hier haben Angst, über Politik zu sprechen. Andere haben Sympathien für den Attentäter. «Er war nicht krank im Kopf. Er hat sich getraut zu tun, was alle gerne tun würden und hatte den Mut dazu», spricht ein Passant ins Mikrofon.
Hass auf Brasiliens Justiz
Politikprofessor Guilherme Casarões macht der Hass der Bolsonaro-Anhänger Sorge, deren Weltbild durch Fake News verdreht sei: «Sie sind überzeugt, dass die Justiz eine Gefahr für die brasilianische Demokratie sei – und nicht Bolsonaro. Dass wir angeblich in einer Justizdiktatur leben und Bolsonaro wäre dann der Retter, der Brasilien zurück zur Demokratie führen würde.»
Bolsonaro hat viele, auch gewaltbereite Anhänger.
Insbesondere konzentriert sich der Hass auf Richter de Moraes. Er stand dem obersten Wahlgericht vor, als Lula die Wahlen 2022 gewann und Bolsonaro abdanken musste. Er liess die Plattform X, ehemals Twitter, im Kampf gegen Desinformation zeitweilig sperren. In Brasilien ist der Richter umstritten: Manche werfen ihm Kompetenzüberschreitung vor, andere sehen in ihm einen eisernen Verteidiger der Demokratie.
Sollte das Oberste Gericht Bolsonaro tatsächlich im Zusammenhang mit dem versuchten Staatsstreich anklagen, wäre dies ein heikler Moment für die brasilianische Demokratie, sagt Casarões voraus: «Er hat viele, auch gewaltbereite Anhänger. Sollte er verhaftet werden, zweifle ich nicht daran, dass er seine Anhänger aufrufen wird, ihn zu unterstützen.»
Im Obersten Gericht in der Hauptstadt Brasilia ist Sicherheitschef Schettini in ständiger Alarmbereitschaft. Sein Ziel: Das Gericht zu schützen. Denn mit diesem stehe und falle die Demokratie.