Miriam Lewin hat ein Folterlager der Militärdiktatur überlebt. Schon damals, im Geheimgefängnis vor fast 40 Jahren, hatte sie einen schrecklichen Verdacht: «Regelmässig riefen die Unteroffiziere Gefangene mit ihren Nummern auf. Sie wurden weggebracht und kamen nie wieder. Wie die Juden ahnten wir, dass sie deportiert und ermordet werden würden.»
Von einem Mithäftling, der versehentlich abtransportiert und später ins Folterlager zurückgebracht wurde, erfuhr die damals 19-Jährige: Die Gefangenen wurden im Keller des Gebäudes nackt ausgezogen, betäubt, auf einen LKW verladen und dann aus Flugzeugen über dem Fluss vor Buenos Aires, dem Río de la Plata, abgeworfen.
Es sollte das perfekte Verbrechen sein – keine Leichen, keine Täter. Nach Ende der Diktatur recherchierte Lewin gemeinsam mit einem italienischen Fotograf jahrzehntelang. In mühsamer Kleinarbeit konnten sie belegen, dass es die Todesflüge tatsächlich gegeben hatte. Sie fanden sogar Flugpläne, und vor ein paar Jahren wurden zwei der Piloten verurteilt.
Argentinische Militärdiktatur (1976-1983)
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Bild 1 von 9. Beim Militärputsch am 24. März 1976 wurde Isabel Perón ihres Amtes enthoben und durch eine Militärjunta ersetzt, die von Jorge Videla (Mitte), dem Oberkommandierenden der argentinischen Streitkräfte, angeführt wurde. Bildquelle: Keystone.
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Bild 2 von 9. Während das rechtsgerichtete, autoritäre und ultranationalistische Militärregime regierte, kam es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen mit Staatsterror (ca. 30.000 Opfer) und Gegenterror von Seiten der linken Guerillaorganisationen Montoneros und ERP. Bildquelle: Keystone.
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Bild 3 von 9. Daas Militär ging mit äusserster Härte gegen Oppositionelle vor. Bildquelle: Keystone.
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Bild 4 von 9. Zahlreiche Demonstranten wurden verhaftet und in geheime Haftanstalten gebracht. In den etwa 340 landesweit verteilten Einrichtungen wurden oft mehr oder weniger willkürlich ausgewählte «Verdächtige» ohne Prozess monate- oder jahrelang festgehalten. Bildquelle: Keystone.
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Bild 5 von 9. Fast alle Festgehaltenen wurden systematisch gefoltert und später umgebracht, nur ein Bruchteil wieder freigelassen. Bildquelle: Keystone.
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Bild 6 von 9. Das grösste dieser Geheimgefängnisse war die Technikschule der Marine (ESMA) in Buenos Aires, wo während der Diktatur etwa 5000 Menschen gefoltert und ermordet wurden. Bildquelle: Reuters.
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Bild 7 von 9. Die Regierung kooperierte gleichzeitig mit zahlreichen kriminellen Todesschwadronen, etwa der Alianza Anticomunista Argentina, die geduldet oder auch unterstützt wurden. Diese terrorisierten grundlos insbesondere Einwanderer aus den Nachbarländern, Juden, Muslime und Studenten. Bildquelle: Keystone.
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Bild 8 von 9. Videla wurde 2012 vom Bundesgericht in Buenos Aires zu einer Gefängnisstrafe von 50 Jahren verurteilt. Dies wegen vielfach verübten Kindesraub an inhaftierten Regimegegnern, danach meist umgebracht wurden. Bildquelle: Keystone.
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Bild 9 von 9. Der Falklandkrieg läutete endgültig den Niedergang des Regimes ein. Die Invasion der seit 1833 von Grossbritannien verwalteten, aber schon immer von Argentinien beanspruchten Falklandinseln (Islas Malvinas) misslang. Viele argentinische Soldaten starben im Krieg. Bildquelle: Reuters.
Nun sitzt Miriam Lewin auf einem breiten Sofa in ihrer Wohnung in Buenos Aires, die Klimaanlage summt leise. Sie spricht ruhig, aber die Entrüstung über den Skandal um die Crypto AG ist deutlich herauszuhören – jene Schweizer Firma, die getarnt dem amerikanischen und deutschen Geheimdienst gehörte.
«CIA und BND wussten alles über die Menschenrechtsverbrechen in Argentinien während der Diktatur», sagt Lewin. «Aber sie taten nichts und machten weiter Geschäfte. So viele Tote, dann das jahrzehntelange Schweigen, das ist völlig unakzeptabel.»
Auch Mariano Sciaroni ist empört. Der Anwalt und Magister in Strategie und Geopolitik recherchiert seit vielen Jahren zum Thema der Geheimdienstkommunikation, insbesondere im Krieg zwischen Argentinien und Grossbritannien um die Malwinen oder Falklandinseln im Jahr 1982. Schon lange hatte Sciaroni vermutet, dass die Geräte der Schweizer Crypto AG abgehört wurden. Dass die Firma CIA und BND gehörte, erfuhr er aber erst durch die vor Kurzem bekannt gewordenen Recherchen.
«Krieg auf dem Meer ist wie ein Pokerspiel. Man weiss nicht, welche Karten der Gegner hat. In diesem Fall waren alle Pokerkarten der argentinischen Marine bekannt. Der Krieg hätte ganz anders verlaufen können», sagt Sciaroni. «Die Briten wussten nicht nur, was gerade passierte. Sie wussten, was die Argentinier planten.»
Das belegt ein Logbucheintrag des Kommandanten im britischen U-Boot HMS Conqueror auf der Suche nach dem feindlichen Schiff « General Belgrano»: «Die Absicht ist es, das Gebiet morgen zu erkunden. Wenn sie tatsächlich dort sind, kann man nur sagen, dass die Unterstützung unseres Geheimdienstes ausgezeichnet [sic] ist.» Die Belgrano wurde am 2. Mai 1982 ausserhalb der Kampfzone versenkt, 323 Menschen starben. Es war ein Wendepunkt im Falklandkrieg und eine nationale Tragödie für Argentinien.
«Es ist unmöglich, dass die Schweiz nichts wusste»
Die Argentinier gedenken noch heute jeden Tag ihrer Toten im Krieg um die Malwinen, um die Falklandinseln. Jeden Morgen um 8 Uhr wird im Zentrum von Buenos Aires am Denkmal für die Gefallenen die Flagge gehisst, um 18 Uhr wieder eingeholt.
Es sei ein Gedenken an einen Krieg, der vermeidbar gewesen wäre, sagt Mario Volpe. Er zog damals als Wehrpflichtiger in den Krieg und engagiert sich heute in einem Zentrum für Kriegsveteranen: «Wenn die britische Regierung über alles vorab informiert war – dann war der Angriff der Argentinier keine Überraschung. Aber Margaret Thatcher hat nichts getan, um den Konflikt zu abzuwenden.»
Von Deutschland und den USA erwartet er in Sachen Crypto AG eine offizielle Entschuldigung – auch von der Schweiz: «Es ist unmöglich, dass die Schweizer Regierung davon nichts wusste. Sie muss sich dazu äussern. Die Glaubwürdigkeit eines Landes, das behauptet, neutral zu sein, steht auf dem Spiel.»
Rundschau, 26.2.2020, 20:05 Uhr