Miriam Lewin hat ein Folterlager der Militärdiktatur überlebt. Schon damals, im Geheimgefängnis vor fast 40 Jahren, hatte sie einen schrecklichen Verdacht: «Regelmässig riefen die Unteroffiziere Gefangene mit ihren Nummern auf. Sie wurden weggebracht und kamen nie wieder. Wie die Juden ahnten wir, dass sie deportiert und ermordet werden würden.»
Von einem Mithäftling, der versehentlich abtransportiert und später ins Folterlager zurückgebracht wurde, erfuhr die damals 19-Jährige: Die Gefangenen wurden im Keller des Gebäudes nackt ausgezogen, betäubt, auf einen LKW verladen und dann aus Flugzeugen über dem Fluss vor Buenos Aires, dem Río de la Plata, abgeworfen.
Es sollte das perfekte Verbrechen sein – keine Leichen, keine Täter. Nach Ende der Diktatur recherchierte Lewin gemeinsam mit einem italienischen Fotograf jahrzehntelang. In mühsamer Kleinarbeit konnten sie belegen, dass es die Todesflüge tatsächlich gegeben hatte. Sie fanden sogar Flugpläne, und vor ein paar Jahren wurden zwei der Piloten verurteilt.
Nun sitzt Miriam Lewin auf einem breiten Sofa in ihrer Wohnung in Buenos Aires, die Klimaanlage summt leise. Sie spricht ruhig, aber die Entrüstung über den Skandal um die Crypto AG ist deutlich herauszuhören – jene Schweizer Firma, die getarnt dem amerikanischen und deutschen Geheimdienst gehörte.
«CIA und BND wussten alles über die Menschenrechtsverbrechen in Argentinien während der Diktatur», sagt Lewin. «Aber sie taten nichts und machten weiter Geschäfte. So viele Tote, dann das jahrzehntelange Schweigen, das ist völlig unakzeptabel.»
Auch Mariano Sciaroni ist empört. Der Anwalt und Magister in Strategie und Geopolitik recherchiert seit vielen Jahren zum Thema der Geheimdienstkommunikation, insbesondere im Krieg zwischen Argentinien und Grossbritannien um die Malwinen oder Falklandinseln im Jahr 1982. Schon lange hatte Sciaroni vermutet, dass die Geräte der Schweizer Crypto AG abgehört wurden. Dass die Firma CIA und BND gehörte, erfuhr er aber erst durch die vor Kurzem bekannt gewordenen Recherchen.
«Krieg auf dem Meer ist wie ein Pokerspiel. Man weiss nicht, welche Karten der Gegner hat. In diesem Fall waren alle Pokerkarten der argentinischen Marine bekannt. Der Krieg hätte ganz anders verlaufen können», sagt Sciaroni. «Die Briten wussten nicht nur, was gerade passierte. Sie wussten, was die Argentinier planten.»
Das belegt ein Logbucheintrag des Kommandanten im britischen U-Boot HMS Conqueror auf der Suche nach dem feindlichen Schiff « General Belgrano»: «Die Absicht ist es, das Gebiet morgen zu erkunden. Wenn sie tatsächlich dort sind, kann man nur sagen, dass die Unterstützung unseres Geheimdienstes ausgezeichnet [sic] ist.» Die Belgrano wurde am 2. Mai 1982 ausserhalb der Kampfzone versenkt, 323 Menschen starben. Es war ein Wendepunkt im Falklandkrieg und eine nationale Tragödie für Argentinien.
«Es ist unmöglich, dass die Schweiz nichts wusste»
Die Argentinier gedenken noch heute jeden Tag ihrer Toten im Krieg um die Malwinen, um die Falklandinseln. Jeden Morgen um 8 Uhr wird im Zentrum von Buenos Aires am Denkmal für die Gefallenen die Flagge gehisst, um 18 Uhr wieder eingeholt.
Es sei ein Gedenken an einen Krieg, der vermeidbar gewesen wäre, sagt Mario Volpe. Er zog damals als Wehrpflichtiger in den Krieg und engagiert sich heute in einem Zentrum für Kriegsveteranen: «Wenn die britische Regierung über alles vorab informiert war – dann war der Angriff der Argentinier keine Überraschung. Aber Margaret Thatcher hat nichts getan, um den Konflikt zu abzuwenden.»
Von Deutschland und den USA erwartet er in Sachen Crypto AG eine offizielle Entschuldigung – auch von der Schweiz: «Es ist unmöglich, dass die Schweizer Regierung davon nichts wusste. Sie muss sich dazu äussern. Die Glaubwürdigkeit eines Landes, das behauptet, neutral zu sein, steht auf dem Spiel.»
Rundschau, 26.2.2020, 20:05 Uhr