Das humanitäre Kriegsvölkerrecht schützt Zivilpersonen, Verwundete, Kranke, Kriegsgefangene sowie Sanitäts- und Seelsorgepersonal. Die seit Jahrzehnten international anerkannten Grundsätze verlieren offenbar an Wichtigkeit: Eine in Genf geplante Konferenz zum Nahostkonflikt wurde abgesagt – sie hätte sich mit dem humanitären Kriegsvölkerrecht befassen sollen. Die Hintergründe kennt Fredy Gsteiger, SRF-Korrespondent für UNO- und geopolitische Fragen.
Was war das Ziel dieser Nahost-Konferenz?
Die UNO-Generalversammlung wollte im vergangenen Dezember mit einer Resolution Druck auf Israel machen, sich ans humanitäre Kriegsvölkerrecht zu halten. Dieses ist in den Genfer Konventionen festgehalten. Deshalb wurde die Schweiz damit beauftragt, eine internationale Konferenz einzuberufen. Ziel war eine Deklaration, die das humanitäre Kriegsvölkerrecht und vor allem dessen Verbindlichkeit bekräftigt hätte. Im Vordergrund stand dabei die vierte Genfer Konvention, in der es um den Schutz von Zivilisten im Krieg geht, aber auch um Regeln für Besatzungsmächte und um ein Verbot von Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen.
Wie gravierend ist es, wenn sich die Staaten nicht mehr auf diese minimalen Grundlagen stützen?
Es ist extrem gravierend. Denn das zeigt, dass das Fundament der Weltordnung, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde, nicht mehr solide ist, ja möglicherweise sogar zusammenfällt. Auch die Genfer Konventionen sind damals entstanden und fanden breite Akzeptanz. Doch diese breite Akzeptanz fehlt mittlerweile. Manche Staaten scheinen nicht einmal mehr bereit, eine Erklärung zu unterzeichnen, welche die Respektierung des Kriegsvölkerrechts anmahnt. Israel hat die Schweiz wegen der Organisation der Konferenz sogar verbal scharf angegriffen.
Warum wurde die Konferenz abgesagt?
Die Schweiz räumt zumindest indirekt ein, dass man gescheitert ist, eine Konferenz mit universeller Beteiligung zu organisieren – und es nicht geschafft habe, für die seit Monaten vorbereiteten Schlusserklärung einen Konsens zu erreichen. Israel hatte von vornherein angekündigt, der Konferenz fernzubleiben. Andere Länder wehrten sich grundsätzlich gegen die Konferenz. Auf der anderen Seite zogen sich manche Staaten, angeführt von Palästina und arabischen Ländern, in letzter Minute zurück, weil die von der Schweiz vorbereitete Schlusserklärung aus ihrer Sicht viel zu weichgespült und unverbindlich war. Sie hätten darin am liebsten auch konkrete Schritte gegen Israel festhalten wollen, etwa diplomatische oder wirtschaftliche Sanktionen.
Was kann Diplomatie im Nahostkonflikt noch erreichen?
Auf multilateraler Ebene, bei der UNO, gibt es fast eine Totalblockade – nicht nur im Sicherheitsrat. Auch die Arbeit technischer oder humanitärer Organisationen wie das Palästinenserhilfswerk UNRWA ist ja höchst umstritten. Als Friedensvermittler spielen die UNO und ihr Generalsekretär António Guterres überhaupt keine Rolle. Es fehlt auch jegliche Einigkeit über zentrale Prinzipien. Diplomatie gibt es im Nahostkonflikt aktuell lediglich noch zwischen einzelnen Ländern, etwa zwischen den USA, Israel, Katar und Ägypten. Und dies derzeit bloss im Zusammenhang mit den zähen Verhandlungen um eine Verlängerung des Waffenstillstandsabkommens mit der Hamas im Gegenzug zur Rückgabe israelischer Geiseln.