Erstmals seit fünf Jahren versammelt sich das grösste humanitäre Netzwerk der Welt mit fast allen Regierungen zur Internationalen Rotkreuzkonferenz in Genf. Diesmal vor einem düsteren Hintergrund: Das Kriegsvölkerrecht wird mit Füssen getreten, die humanitäre Hilfe steht unter Druck, die Neutralität humanitärer Arbeit wird missachtet. IKRK-Präsidentin Mirjana Spoljaric ruft die Konfliktparteien dazu auf, sich an das internationale Recht zu halten, zu dem sie sich bekannt haben.
SRF News: Die Rotkreuzkonferenz findet alle fünf Jahre statt. Was will man dieses Jahr auf dem Treffen erreichen?
Mirjana Spoljaric: Die Internationale Rotkreuz-/Rothalbmond-Konferenz ist die wichtigste internationale Plattform, auf der wir zusammenkommen, um die humanitäre Situation der Menschen in Krisen zu verbessern. Dieses Jahr geht es vor allem darum, den Respekt für das humanitäre Völkerrecht zu erhöhen.
Bei früheren Konferenzen wurde jeweils von der Stärkung des humanitären Völkerrechts gesprochen. Kann man überhaupt noch von Stärkung sprechen? Oder müsste man eher davon reden, zu retten vom humanitären Völkerrecht, was zu retten ist?
Das humanitäre Völkerrecht und vor allem die Genfer Konventionen sind heute genauso relevant wie vor 75 Jahren. Aber sie müssen besser durchgesetzt werden. Es geht also jetzt nicht darum, das Recht zu stärken, sondern es geht mir selber vorab darum, dass die bestehenden Abkommen erfüllt werden, dass sich die Staaten daran halten und dass sie die Erfüllung dieser Verträge zur politischen Priorität erheben.
Heute werden tagtäglich Menschen vertrieben, Spitäler und Ambulanzen angegriffen.
Das weltpolitische Umfeld ist aber ausgesprochen garstig für die humanitäre Arbeit. Wie lässt sich der Handlungsspielraum für Organisationen wie das IKRK vergrössern?
Die Genfer Konventionen wurden aufgrund der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs geschaffen. Sie wurden geschaffen für komplexe Situationen, wie wir sie heute erleben. Heute ist es wichtiger denn je, dass sie angewendet werden. Das fordere ich von den Staaten.
Wir wollen uns nun auf der Rotkreuzkonferenz mit ihnen zusammensetzen und praktische Massnahmen diskutieren, wie sie sich für das humanitäre Völkerrecht engagieren können. Da wollen wir konkrete Ideen auf den Tisch legen und die Staaten damit herausfordern. Nicht nur diese Woche, sondern darüber hinaus.
Können Sie diese konkreten Schritte benennen? Oder anders ausgedrückt: Wo sind die grössten Schwierigkeiten für das IKRK?
Heute werden tagtäglich Menschen vertrieben, Spitäler und Ambulanzen angegriffen. Es gibt Mittel und Möglichkeiten in der Kriegsführung, das zu verhindern. Es geht im Grunde lediglich darum, den Geist des Rechts entsprechend auszulegen und in die militärischen Strategien zu integrieren, damit der Schutz der Zivilbevölkerung im Vordergrund steht. Ein Sieg um jeden Preis steht dem Völkerrecht entgegen. Das widerspricht den Genfer Konventionen, die heute noch von allen Staaten ratifiziert sind.
Wo sehen Sie die Hauptursachen dafür, dass das humanitäre Völkerrecht und auch die konkrete humanitäre Arbeit im Terrain derart unter Druck geraten sind?
Hier geht es um die Interpretation des Völkerrechts. Wenn sich Staaten alles erlauben, um militärische Ziele zu erreichen, dann gerät die Zivilbevölkerung unter Druck. Wir erleben heute im Libanon bereits wenige Wochen nach Beginn der neuesten Operationen enorme Zahlen von Vertriebenen. Nie in der Vergangenheit wuchsen diese so schnell an. Nach zwei Wochen haben wir mehr als eine Million Vertriebene. Wer kann das auffangen? Keine humanitäre Organisation ist heute in der Lage, das zu absorbieren.
Reichen die Genfer Konventionen heute noch aus? Oder müsste man sie anpassen, neu formulieren oder ergänzen?
Nein. Die Genfer Konventionen erfüllen ihren Zweck. Sie müssen überhaupt nicht umformuliert werden. Man muss sie anwenden. Und zwar so, dass man beispielsweise diese hohen Zahlen von Vertriebenen vermeidet, wie wir sie heute im Nahen Osten oder am Horn von Afrika sehen. Dazu braucht es konkrete Schritte, die bewaffnete Gruppen oder Parteien unternehmen können und respektieren müssen.
Der systematische Zusammenfall von Gesundheitssystemen in Konflikten ist absolut nicht notwendig. Er lässt sich vermeiden, wenn Spitäler von militärischen Operationen ausgenommen werden, solange sich zivile Personen darin befinden. Wir sprechen darüber vertraulich mit allen Konfliktparteien, denn es gibt natürlich Fragen der Auslegung.
Inwieweit ist zugleich die Finanzierung humanitärer Organisationen wie des IKRK ein Problem? Sie mussten in jüngster Zeit einschneidende Sparmassnahmen durchsetzen. Gibt es noch weitere Kürzungen?
Wir bewirtschaften unsere Beiträge sehr sparsam und sehr effizient. Wir haben vor einigen Monaten eine finanzielle Krise durchgemacht, die uns gezwungen hat, das Budget zu reduzieren. Und wir beobachten, dass die Budgets unserer grössten Geberländer verstärkt unter Druck kommen. Das heisst, wir werden auch in Zukunft sehr nachhaltig hantieren müssen.
Wir haben noch nie so viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen verloren im humanitären Sektor wie im letzten Jahr.
Dennoch sind die Finanzen nicht die einzige Herausforderung momentan. Uns beschäftigt genauso stark, dass wir vielerorts keinen Zugang zur Zivilbevölkerung erhalten, wo wir Hilfe leisten könnten. Das heisst, es geht heute nicht nur um Geld, sondern es geht auch um den Respekt humanitärer Organisationen.
Heisst das, auch das Risiko für humanitäre Arbeit, für ihre Leute im Terrain ist deutlich gestiegen?
Unsere Sicherheit kommt unter Druck und damit auch die Sicherheit derer, denen wir helfen müssen. Wir haben noch nie so viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen verloren im humanitären Sektor wie im letzten Jahr. Dieses Jahr ist es noch schlimmer. Das heisst, wir brauchen mehr Respekt für humanitäre Hilfe und für neutrale Akteure. Das ist die Voraussetzung humanitärer Arbeit in Konflikten.
Sie betonen die Neutralität. In einer Zeit weltpolitischer Spannungen, gerade zwischen den grossen Mächten, scheint aber die Akzeptanz für Neutralität massiv geschwunden zu sein?
Die Neutralität kommt immer unter Druck, wenn sich Konflikte intensivieren. Die Neutralität des IKRK wurde schon in der Vergangenheit regelmässig kritisiert. Das gehört zu unserer Existenz. Einerseits können wir ohne Neutralität nicht agieren, und andererseits erfordert sie, dass wir vertraulich agieren. Genau das wird in der Öffentlichkeit und von Entscheidungsträgern kritisiert. Aber wir haben über ein Jahrhundert lang bewiesen, dass wir das aushalten.
Das Gespräch führte Fredy Gsteiger.