«Was habt Ihr in den letzten zweieinhalb Jahren eigentlich gemacht?», ruft eine Frau vor dem Büro des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Kiew. Und eine zweite schreit: «In diesem Moment wird meine verschleppte Schwester gefoltert, ich kann nachts deswegen nicht schlafen!».
Forderung: IKRK muss deutlicher werden
Es sind Angehörige ukrainischer Kriegsgefangener, die mit einer Kundgebung Druck auf das IKRK machen wollen. Sie formulieren Vorwürfe, die seit Kriegsbeginn regelmässig zu hören sind: Das IKRK tue zu wenig, um Zugang zu den ukrainischen Kriegsgefangenen und den verschleppten Zivilpersonen zu erhalten. Und die Organisation rede keinen Klartext, was angesichts der klaren Verstösse Russlands gegen das Völkerrecht geboten wäre.
Tatsächlich deuten die Aussagen von Freigelassenen und Angehörigen darauf hin, dass das IKRK nur einen Bruchteil der Gefangenen besuchen kann. Und dass die Haftbedingungen entsetzlich sind.
UNO: Systematische Folter in russischer Gefangenschaft
Nach Angaben der UNO-Menschenrechtsbeauftragten werden 95 Prozent der ukrainischen Gefangenen in russischer Haft gefoltert. Zudem haben viele Angehörige keinen Kontakt zu ihren verschwundenen Liebsten. Dabei sind Besuche und Kontrolle der Haftbedingungen die Kernaufgabe des IKRK.
Die 34-jährige Svitlana Bilous, Ehefrau eines Kriegsgefangenen, formuliert es so: Wenn das Rote Kreuz seine Verpflichtungen nicht erfüllen könne, dann solle die Organisation dies auch öffentlich sagen und die Welt informieren. Nur so könne Druck auf Russland ausgeübt werden. Doch das IKRK tue das nicht.
IKRK-Website zu Arbeit und meistgehörten Vorwürfen aus der Ukraine
Mit dieser Leisetreterei trage das IKRK dazu bei, die Kriegsverbrechen Russlands zu verschleiern, so der Vorwurf. Tatsächlich bleiben alle Statements des Roten Kreuzes zum Krieg in der Ukraine vage. So heisst es etwa auf der Webseite, man habe bisher 2400 Kriegsgefangene auf beiden Seiten besucht.
Ukraine behandelt Gefangene völkerrechtskonform
Wobei das wohl hauptsächlich russische Kriegsgefangene waren, denn die Ukraine lässt Gefangenenbesuche zu und kommt den völkerrechtlichen Verpflichtungen nach. Aber dies so zu formulieren, ist dem IKRK zu heikel.
Und als in der zweiten Septemberwoche drei IKRK-Mitarbeiter in Frontnähe durch russischen Beschuss getötet wurden, als sie Hilfsgüter verteilten, vermied es das IKRK sogar, Russland als Verantwortlichen zu nennen.
Je mehr das IKRK sich in der Öffentlichkeit äussert, desto mehr fühlen sich Kriegsparteien angegriffen.
Ariane Bauer, IKRK-Regionaldirektorin für Europa und Zentralasien, sagt: «Unsere langjährige Erfahrung als IKRK ist, dass dieser bilaterale Weg der schlüssige ist.» Bilateraler Weg – das heisst: alle Gesprächskanäle offenhalten und hinter den Kulissen arbeiten.
Denn, so Bauer: Je mehr das IKRK sich in der Öffentlichkeit äussere, desto mehr fühlten sich Kriegsparteien angegriffen. Dann werde es schwierig, Vertrauen aufzubauen und so zum Ziel zu kommen, dem längerfristigen Zugang zu allen Kriegsgefangenen.
Die Organisation versucht zwar immer wieder, dies der ukrainischen Öffentlichkeit zu erklären, stösst damit aber auf taube Ohren. Denn die Ukrainer und Ukrainerinnen glauben nicht, dass ein so vorsichtiges Vorgehen bei Russland, das eklatant das Völkerrecht verletzt und schon fast demonstrativ Kriegsverbrechen begeht, zum Ziel führt. Und so wird die Kritik am Roten Kreuz wohl nicht so schnell verstummen.