Peter Maurer, Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) ist gerade aus der Ukraine zurückgekehrt. Er schildert die langen Autokolonnen jener, die ausreisen wollen, und von den humanitären Versorgern in der Gegenrichtung. Er berichtet vom Lockdown in Kiew: «Ausser den Fahrzeugen des Roten Kreuzes war in dieser 3-Millionen-Stadt niemand unterwegs.» Und wie in jedem anderen Kriegsgebiet sehe man die Einschlagsstellen von Raketen und Artillerie. Was den Ukraine-Krieg von anderen Konflikten unterscheidet und warum seine Mitarbeiter aus der umkämpften Stadt Mariupol abgezogen wurden, erklärt Peter Maurer im Interview.
SRF: Ihre Mitarbeiter in Mariupol berichten von «apokalyptischen Szenen», Sie sprachen von einem Albtraum. Was löst der Krieg bei Ihnen aus?
Peter Maurer: Uns bereitet es Albträume, dass dieser Krieg in dicht besiedelten Gebieten und Städten stattfindet – und das mit sehr wirkungsvollen Waffen. Das hat enorme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung und versetzt sie in Angst und Schrecken. Das ist zwar nichts grundsätzlich Neues, das haben wir in anderen Kontexten schon gesehen, etwa in Syrien. Aber durch die Omnipräsenz des Krieges in den Städten mit derart heftigen Waffen sehen wir die Auswirkungen bei der Vertreibung der Bevölkerung und bei der Zerstörung der Infrastruktur. Das ist eine grosse Herausforderung für humanitäre Organisationen.
Das IKRK versucht, Feuerpausen auszuhandeln. Oft funktioniert das nicht und es wird weiter geschossen. Woran liegt das?
Es besteht kein Vertrauen zwischen den Parteien und es braucht präzisere Abmachungen. Solche Arrangements können nur Bestand haben, wenn ein Minimum an Vertrauen herrscht und die Vereinbarungen so präzis sind, dass jeder weiss, was sie beinhalten.
Es besteht kein Vertrauen zwischen den Parteien.
Im Moment sind wir aber noch in einer frühen Phase solcher Abmachungen, verglichen mit Evakuations- und Zugangsverhandlungen in anderen Regionen der Welt.
Es wird also noch Monate so weitergehen?
Es wird wohl noch einen Moment dauern, bis es verbindliche Abmachungen gibt, die dann auch eingehalten und umgesetzt werden. Der Rest hängt mehr von den politischen Führern der Länder ab: Gibt es einen Waffenstillstand oder Friedensverhandlungen? Ist da ein Wille, einen Weg aus dem Konflikt zu finden oder verhärten sich die Fronten wieder? Im Moment wissen wir nicht, in welche Richtung es geht. Als humanitäre Organisation müssen wir uns darauf vorbereiten, dass der Krieg noch eine Zeit weitergeht.
Das IKRK gilt als Organisation, die auch dann noch in Krisengebieten ausharrt, wenn andere Helfer längst weg sind. Nun hat das IKRK seine Mitarbeiter aus Mariupol abgezogen. Was bedeutet das?
Das heisst, dass man keine vernünftige humanitäre Hilfe mehr leisten kann, indem man vor Ort ist. Darum haben wir uns entschlossen, die Leute abzuziehen. Gleichzeitig haben wir vor den Toren Mariupols logistische Vorbereitungen getroffen, damit wir mit humanitärer Hilfe in die Stadt hinein können, sobald die Bedingungen wieder gegeben sind.
Man kann keine vernünftige humanitäre Hilfe mehr leisten, indem man vor Ort ist.
Dafür wird ein neues Team aufgeboten – die Mitarbeiter, die nun die ersten drei Wochen unter diesen schwierigen Bedingungen in der Stadt ausgehalten haben, brauchen eine Pause.
Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht sind gut dokumentiert. Warum äussert das IKRK Kritik nicht öffentlich?
Unsere Aufgabe ist es, sich mit beiden Kriegsparteien vertraulich zu engagieren, damit das Recht eingehalten wird. Es ist nicht Kernaufgabe des IKRK, im öffentlichen Bereich Stellung zu nehmen. Wir müssen im vertraulichen Gespräch Verhaltensänderungen herbeiführen.
Das Gespräch führte Dominik Meier.