Herbert Kickl hat sich verzockt. Er hätte Kanzler werden können, doch er wollte keine Kompromisse eingehen, sondern seine Agenda zu 100 Prozent durchsetzen, nach dem Vorbild von Donald Trump. Umgekehrt ist der konservativen ÖVP im Laufe der Verhandlungen aufgegangen, auf wen sie sich eingelassen hat.
Vor zwei Tagen formulierten die Konservativen ein Papier mit ihren roten Linien. Darin steht wörtlich: «Rechtsstaatlichkeit bedeutet, dass wir uns auf Grundlage von Gesetzen bewegen... und nicht das Recht des Stärkeren.» Grundlage sei die Einhaltung der Verfassung, der Gesetze und der Gerichtsbarkeit, insbesondere auch des österreichischen Verfassungsgerichtshofs. «Meinungs- und Pressefreiheit sind unverzichtbarer Teil unserer liberalen Demokratie.»
Wenn man so etwas in einem demokratischen Rechtsstaat explizit vom potenziellen Regierungspartner Herbert Kickl und der FPÖ verlangen muss, sagt das alles über diesen aus.
Vier Optionen sind nun denkbar
Vier Optionen stehen nun zur Debatte: Neuwahlen, eine Minderheitsregierung, eine Expertenregierung oder erneute Koalitionsverhandlungen zwischen den anderen Parteien im Parlament.
Neuwahlen haben ihre Tücken, weil laut Umfragen nur die rechtspopulistische FPÖ dazugewinnen würde. Ob sich die anderen Parteien darauf einlassen wollen – und dazu braucht es die Zustimmung des Parlaments – ist zu bezweifeln. Eine Minderheitsregierung wäre möglich, aber in Österreich nicht erprobt und üblich.
Eine Expertenregierung könnte vom Bundespräsidenten eingesetzt werden, aber auch sie braucht die Unterstützung des Parlaments, das diese Expertenregierung jederzeit per Misstrauensvotum stürzen könnte. Die letzte Option sind Neuverhandlungen zwischen den anderen Parteien neben der FPÖ.
Das Hohelied des Kompromisses
Bundespräsident Van der Bellen äusserte keine Präferenz. Doch er widmete weite Teile seiner Rede am Abend dem Kompromiss und liess damit indirekt durchblicken, dass es ihm am liebsten wäre, wenn sich die anderen Parteien zusammenraufen würden.
Warum sollte jetzt gelingen, was vor wenigen Monaten gescheitert ist? Anders als noch anfangs Januar ist dem politischen Österreich möglicherweise jetzt klar geworden, was auf dem Spiel steht.
Herbert Kickl will Österreich grundlegend verändern, er will zwar Österreich wörtlich zu einer «Insel der Seligen machen», aber diese Insel wäre kein demokratischer Rechtsstaat mehr. Österreich würde aus dem westlichen, transatlantischen, europäischen Lager quasi herausgebrochen. Das hat bei den jetzt gescheiterten Koalitionsverhandlungen vielleicht nicht nur die konservative ÖVP verstanden.