«Ich bereue keinen Moment, in Mexiko geblieben zu sein», sagt Demilton Rodríguez. Der Venezolaner sitzt auf einer Parkbank auf der Alameda Central, dem ältesten öffentlichen Park von ganz Amerika, im Herzen von Mexiko-Stadt. Rodríguez war einer von Hunderttausenden, die sich jedes Jahr auf den Weg machen in die USA. Er ist durch acht Länder gereist, rund 5000 Kilometer, ein beschwerlicher und gefährlicher Weg.
«Im Darién-Dschungel in Panama, der als eine der gefährlichsten Gegenden der Welt gilt, kannst du kein Essen auftreiben, du darfst das Wasser des Flusses nicht trinken, weil es verseucht ist.» Er habe dort ebenso Menschenskelette gesehen wie frische Kadaver, die schon aufgebläht waren. «Manche rutschen aus, verletzen sich den Knöchel und bleiben zurück. Ich habe Leute gesehen, die ihre Mütter zurückgelassen haben.» Auch Einschüchterung, Entführung und sexuelle Gewalt gehören zum Alltag der Migrantinnen und Migranten.
Sie sind dem organisierten Verbrechen, der Willkür der Behörden und den Herausforderungen der Natur ausgesetzt. In Mexiko-Stadt angekommen, wollte Demilton Rodríguez nicht mehr weiter in die USA. Zu anstrengend, zu ungewiss, er konnte nicht mehr. Er entschied sich einen Asylantrag in Mexiko zu stellen und erhielt Asyl.
Top fünf bei Asylgesuchen weltweit
Das war 2023. Damals war Mexiko bei den top fünf Ländern weltweit, in welchen am meisten Asylgesuche eingereicht wurden. Mehr als 140'000 – Mexikos Rekord. Im Schnitt werden rund 70 Prozent der Gesuche positiv beantwortet. Zum Vergleich: In der Schweiz liegt die Anerkennungsquote aktuell bei 34 Prozent. Doch nicht alle Migrantinnen und Migranten wählen den Weg des Asyls. Laut den jüngsten offiziellen Zahlen sind derzeit fast eine Million Menschen illegal in Mexiko.
In Mexiko-Stadt haben sich verschiedene informelle Siedlungen gebildet. Eine Hütte aus Plastik, Holz und Wellblech reiht sich an die anderen. «Vor einigen Jahren sind die Migrierenden nur durch Mexiko-Stadt durchgezogen, aber dann sind die Lager aufgetaucht», sagt José Antonio Silva von Médecins Sans Frontières (MSF).
Seit 2023 ist der Menschenhandel die wichtigste Einnahmequelle des organisierten Verbrechens in Mexiko.
Das sorgt für Konflikte mit der Stadtbevölkerung. Die informellen Lager würden zudem dem organisierten Verbrechen überlassen, welches in den letzten Jahren die Migranten als Goldesel entdeckt hat, so José Antonio Silva. Waffen- und Drogenschmuggel seien stets die wichtigsten Einnahmequellen des organisierten Verbrechens gewesen. Das habe sich nun geändert. «Seit 2023 ist der Menschenhandel die wichtigste Einnahmequelle des organisierten Verbrechens in Mexiko.»
In den Lagern kontrolliere das organisierte Verbrechen den Zugang zu Wasser und Strom. Erst seit 2022 ist die NGO Médecins Sans Frontières in Mexiko-Stadt aktiv. Man habe sich den Schritt lange überlegt, immerhin sei Mexiko-Stadt die siebtgrösste Metropole der Welt, da brauche es doch keine humanitäre Organisation, erklärt der Leiter des Migrationsprojekts in Mexiko-Stadt. Doch die Bedürfnisse hätten sich geändert.
Mit der Politik von Donald Trump gibt es de facto keine legale Möglichkeit mehr, in die USA zu kommen. Das bedeutet, dass all diese Menschen nun in Mexiko gestrandet sind. Das ist der aktuelle, direkte Effekt der Migrationspolitik von Donald Trump. Doch die Tendenz, dass immer mehr Leute in Mexiko bleiben, zeichnet sich bereits seit einigen Jahren ab.
Flüchtlinge aus dem Kongo und China
Zudem habe sich die Migration in Mexiko komplett verändert, so der MSF-Mitarbeiter: «Mexiko kannte vor allem Migration aus Zentralamerika. Junge Männer, die nach Norden ziehen. Mittlerweile sind es Familien und mehr Minderjährige als Erwachsene.» Die Flüchtenden kämen aus dem Kongo, Angola, Mauretanien, Senegal, aus China, Iran, Afghanistan, aus Russland und der Ukraine. Das stelle das Land vor neue Herausforderungen. Plötzlich sind da Menschen, die kein Spanisch sprechen. Plötzlich sind da Kinder, die zur Schule sollten.
Zarathoustra, der seinen vollen Namen nicht nennen will, kommt aus der Republik Kongo. Wie die meisten Migrantinnen und Migranten, die aus Afrika, Asien oder Europa kommen, ist er via Brasilien eingereist. Laut Aussagen der Flüchtenden, ist es einfach, in Brasilien ein Visum zu erhalten. Besonders auf nicht legalen Wegen. In Mexiko schlägt er sich per App durch. Er habe sich Google Translate heruntergeladen. «Im Supermarkt benutze ich Google Translate. Damit verstehen mich die Mexikaner», so der Kongolese.
Massendeportation hat nie gestoppt
Zu den Asylsuchenden und Menschen, die illegal in Mexiko bleiben, kommen nun vielleicht noch Hunderttausende Ausgeschaffte dazu. US-Präsident Donald Trump droht mit der «grössten Massendeportation in der Geschichte Amerikas». «Doch wann bitte, hat die Massendeportation aus den USA je gestoppt?», fragt die mexikanische Migrationsexpertin Nancy Landa: «Wenn in einem Jahr eine Million Menschen ausgeschafft werden – ist das nicht massenhaft?» Der Demokrat Barack Obama ist immer noch Rekordhalter, rund drei Millionen Menschen hat er deportiert.
In den USA sind diese Menschen Sans-Papiers und zurück in Mexiko sind sie es auch wieder.
Migrierende aus anderen Ländern erhielten in Mexiko kaum Unterstützung, aber auch Mexikanerinnen und Mexikaner, die aus den USA ausgeschafft werden, de facto zurück in ihre Heimat, hätten Schwierigkeiten, so Landa. Jedes Jahr sind es mehrere Hunderttausend. «In Mexiko haben wir es mit einem Staat zu tun, in dem man ganz viele Dokumente braucht, um Zugang zu allem Möglichen zu haben.» Zugang zu Arbeit, Bildung, Gesundheitsversorgung, all das sei schwierig, wenn meine keine Geburtsurkunde habe. Es sei absurd. «In den USA sind diese Menschen Sans-Papiers und zurück in Mexiko sind sie es auch wieder.»
Das Ankommen nach vielen Jahren in den USA sei für viele Deportierte schwierig. Nebst dem administrativen Spiessrutenlauf würde die mexikanische Gesellschaft die Ausgeschafften auch stigmatisieren, gar kriminalisieren. Vorerst bleibt die angekündigte «Massendeportation» aber noch aus. Oder sie bleibt einfach so massiv, wie sie schon unter den US-Präsidenten Biden, Obama und Bush war.