Nicht zum ersten Mal provozieren Nationalreligiöse mit Besuchen auf dem Tempelberg. Nun beten und singen sie sogar vor Social-Media-Kameras. Dabei ist ihnen Beten dort von Staates wegen verboten. Das israelische Oberrabbinat verurteilt Tempelberg-Besuche. Und in Jerusalem protestieren fünf Senior-Rabbiner mit Zeitungsartikeln und Videobotschaften. Sie distanzieren sich von den sogenannt «Nationalreligiösen», denn: wahrhaft religiöse Juden würden nicht auf den Tempelberg gehen.
«Juden gehen nicht auf den Tempelberg», sagt Jitzchak Josef, ehemaliger sephardischer Oberrabbiner Israels. Nach jüdischer Tradition sei allein schon das Betreten des heiligen Bezirks oben auf dem Tempelberg ein Frevel. Jüdische Menschen sollten da überhaupt nicht hinauf, betonen sie im Video. Sie sind sehr aufgebracht.
Der israelische Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir hört nicht auf sie: Er begleitete nationalreligiöse Siedler auf den Tempelberg, die dort beten, singen, laut skandieren und sich dabei öffentlichkeitswirksam filmen lassen.
Finanzminister Bezalel Smotrich von der rechtsextremen Siedlerpartei Partei Otzma Jehudit («Jüdische Kraft») ging auch mit. Smotrich nennt sich selbst einen «homophoben Faschisten». Für ihn existiert das palästinensische Volk gar nicht als Volk.
Ben-Gvir zeigt keine Einsicht
Mit ihren Tempelberg-Besuchen postulieren extremistische Nationalreligiöse ihren Anspruch auf den Tempelberg und auf das ganze Land. Nach internationalen Protesten lenkt Minister Ben-Gvir nicht etwa ein. Er fordert jetzt sogar, dass Juden künftig immer auf dem Tempelberg gehen und beten können sollen. Das widerspricht erst recht dem besagten Status Quo und dem jüdischen Religionsgesetz.
Ein religiöses Bedürfnis kann Beten auf dem Tempelberg also nicht sein. Das stellten die fünf führenden Rabbiner Jerusalems klar. Fromme Menschen warten, bis der Messias kommt und den Tempel wiederherstellt. Das Rabbiner-Video ist erstmals arabisch untertitelt. Denn es enthält auch eine Friedensbotschaft an die arabischen Nachbarn.
Die Welt solle nicht meinen, dass diese Minister das jüdische Volk repräsentierten. Im Gegenteil, das jüdische Volk solle sich nicht von diesen Ministern – gemeint sind Ben-Gvir und Smotrich – führen lassen.
Eine Koalition mit «Sündern»?
Zwar orientieren sich die Nationalreligiösen offenbar nicht an den orthodoxen Autoritäten. Aber ihr Appell könnte von den frommen Führern der ultraorthodoxen Parteien (Schas und Vereinigtes Tora-Judentum) gehört werden. Die ultraorthodoxen Regierungsparteien müssen sich daher fragen, ob sie in einer Regierungskoalition mit «Sündern» bleiben können. Gingen sie raus aus Netanjahus Kabinett, wäre die Regierung zerfallen. Neuwahlen kämen.
Die Rabbiner haben überdies verstanden, wie aggressiv die Tempelberg-Besuche nationalistischer Siedler auf muslimische Gläubige und arabische Nachbarn wirken. Von dieser Gewalt wollen sich die orthodoxen Rabbiner mit ihren Schulen abgrenzen. Abschliessend reicht Rabbiner Jitzchak Josef den Muslimen gleichsam die Hand und versichert: «Wer an den einen Gott glaubt, will Frieden.»