Wer hätte das gedacht? Im 21. Jahrhundert greift Russland das Nachbarland Ukraine an. Europa, allen voran die baltischen Staaten, fürchten einen Einmarsch Russlands. Die Nato und die EU stellen sich auf den Standpunkt, der Angriff bedrohe nicht nur die Ukraine, sondern die freie Welt. Russlands Präsident Putin antwortet mit dem Rasseln des nuklearen Säbels. Und plötzlich ist die Angst vor dem Atomkrieg zurück, die Bilder von düsteren Atompilzen vor einem gleissend hellen Himmel.
Die Gefahr eines dritten Weltkriegs ist real.
Die Angst vor einem Nuklearkrieg globalen Ausmasses sei berechtigt, sagt Herfried Münkler, der Politologe, der auch Kanzlerin Merkel beriet. «Mit zwei Kriegen, in die Atommächte involviert sind, also dem Ukraine-Krieg mit Russland und dem Nahost-Krieg mit Israel, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass ein Krieg ausbricht, der relativ schnell globale Ausmasse annimmt und in eine nukleare Konfrontation mündet. Die Gefahr eines dritten Weltkriegs ist somit real.»
Das Stockholmer Friedensinstitut Sipri rechnet nicht damit, dass aus dem Ukraine-Krieg ein Atomkrieg wird. Trotzdem, so Sipri-Direktor Dan Smith: «Wenn Atomwaffen existieren, gibt es leider immer diese Möglichkeit. Und das wäre katastrophal.» Um die tatsächliche Gefahr zu verstehen, reicht ein Blick zurück.
Der Kalte Krieg
«Nie wieder Krieg» hiess es nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs, nach 75 Millionen Toten. Doch die Siegermächte blieben nur kurze Zeit geeint in der Angst vor Nazi-Deutschland. Schon bald nach Abschluss des Abkommens von Jalta zeigte sich, dass sich zwei Konzepte unvereinbar gegenüberstehen: das liberale, demokratische Weltbild der USA und des Westens und das planwirtschaftliche, kommunistische des Ostens. Obwohl beide Konzepte grundsätzlich das Wohl des Einzelnen anstreben, tun sie das doch sehr unterschiedlich: da freiwillig, dort mit Zwang.
Der Kalte Krieg entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einer politisch-ideologischen, ökonomischen, technologisch-wissenschaftlichen und kulturell-sozialen Auseinandersetzung.
Der Eiserne Vorhang senkt sich
Der Kalte Krieg beginnt mit dem Telegramm des US-Diplomaten George Kennan. Auf die Frage der US-Regierung, warum sich die Sowjetunion weigere, die neu gegründete Weltbank zu unterstützen, antwortet Kennan aus Moskau in gut 5300 Worten und schliesst mit der Meinung, dass es mit Russland keinen Modus vivendi gebe.
Er empfahl, die Russen sollten «eingedämmt» werden. Ob diese Einschätzung richtig sei, dass Russland ein expansiver Staat gewesen sei, darüber könnte man streiten, sagt Herfried Münkler.
Da die Archive des Kremls in dieser Frage nach wie vor nicht offen seien, liessen sich expansive Pläne der Sowjetunion nicht nachweisen. «Klar ist aber, es gab solche Versuche der Sowjetunion, etwa durch Installierung einer kommunistischen Entwicklung in der Tschechoslowakei», sagt der Politikwissenschaftler Münkler.
Der Eiserne Vorhang trennt Ost und West
Am 5. März 1946 verkündet der britische Premier Winston Churchill in der berühmten Rede: «Von Stettin an der Ostsee bis Triest an der Adria ist ein Eiserner Vorhang über den Kontinent heruntergegangen.» US-Präsident Harry Truman verkündet 1947 den neuen politischen Kurs: containment (Eindämmung).
Kernstück dieser Politik ist die Truman-Doktrin. Die USA wollen allen «freien Staaten» helfen, die von Kommunismus bedroht werden.
Die USA, die Atombombe und das Gleichgewicht des Schreckens
Mehrere Male entstehen in den kommenden 45 Jahren Krisen, die zum dritten Weltkrieg hätten führen können: der Koreakrieg zum Beispiel, der von 1950 bis 1953 tobte. «Brandgefährlich», so Herfried Münkler. Denn das sei eine militärische Konfrontation zwischen dem Westen und Korea und China gewesen.
«Die amerikanischen Generäle überlegten sich, Nuklearwaffen einzusetzen, wenn die Chinesen diesen oder jenen Fluss überschreiten sollten. Damals noch mit der Vorstellung, dass es kein Gleichgewicht des Schreckens gebe, sondern dass es ein Privileg der USA sei, mit dem sie sozusagen den Osten zügeln und züchtigen könnten.»
Die Kubakrise
Nachdem die USA in der Türkei atomar bestückte Raketen stationiert hatten, die relativ schnell sowjetische Zentren erreicht hätten, liess der sowjetische Ministerpräsident Nikita Chruschtschow in Kuba ebenfalls Mittelstreckenraketen stationieren. Die Sowjetunion versuchte die Vorteile, die die USA durch die Mittelstreckenraketen hatten, auszugleichen. US-Präsident John F. Kennedy versprach darauf, die USA würden auf einen Angriff entsprechend reagieren.
In dieser Situation, erklärt Herfried Münkler, gab es eine Abmachung hinter den Kulissen: «Ihr zieht eure Raketen aus Kuba ab und wir dann nach einer gewissen Zeit unsere aus der Türkei. Die Frage war also, wer zuerst nachgibt.» Damit war die Kubakrise eher symbolischer Natur.
Von der bipolaren zur multipolaren Welt
Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist die Rede von einer Zeitenwende. Die Zeichen stehen wieder auf Aufrüstung, und Europa sucht Wege, wie es sich selbst verteidigen könnte, sollten die USA ihre bisherige Politik nicht mehr verfolgen wollen.
Heute ist die Lage komplizierter als im 20. Jahrhundert, weil sich nicht mehr zwei Supermächte gegenüberstehen, mit den Blockfreien dazwischen, sondern die Welt aus mehreren Grossmächten besteht, die in einem komplizierten Miteinander funktionieren: zwischen den USA und China ist Wirtschaftskrieg. China und Russland rücken näher, haben aber zum Teil unterschiedliche Ziele und sind auch Konkurrenten, so wie China und Indien. Die EU ist zwar wirtschaftlich stark, aber geopolitisch wenig bedeutend.
Münklers neuestes Buch «Die Welt in Aufruhr» sieht denn auch die Welt in den Händen dieser fünf Akteure, wobei Indien die Rolle einer ausbalancierenden Macht in einer multipolaren Weltordnung einnehmen könnte. Diese fünf grossen Mächte sollten ein «Direktorium der globalen Ordnung» bilden. Nur so lasse sich eine Anarchie der Staatenwelt und ein drohender Krieg zwischen den USA und China vermeiden.