Jahrzehntelang galt ein Atomkrieg bloss als theoretische Möglichkeit. Das System der Abschreckung funktionierte. Die meisten Atommächte rüsteten nuklear ab. Doch mit Russlands Überfall auf die Ukraine rückt plötzlich ein Nuklearkrieg wieder in den Bereich des Denkbaren. Ein Gespräch mit Izumi Nakamitsu, der für Abrüstung zuständigen Vizegeneralsekretärin der UNO, über die wachsende atomare Gefahr.
SRF News: Schon mehrfach seit der Invasion in die Ukraine drohte die russische Führung mit Atomwaffen. Das Regime in Nordkorea tut das ebenfalls regelmässig. Inwiefern erhöhen solche verbalen Kraftmeiereien die Gefahr eines Atomkriegs?
Izumi Nakamitsu: Wir stellen alle fest, dass die globalen Normen gegen den Einsatz von Atomwaffen unter Druck sind – besonders durch die beiden genannten Länder. Solche nukleare Rhetorik ist gefährlich. Die Risiken sind inakzeptabel hoch.
Die Atomwaffenrisiken sind derzeit inakzeptabel hoch.
Noch grösser als die Gefahr eines bewussten Atombombeneinsatzes ist jedoch das Risiko, dass eine Atombombe aufgrund eines Unfalls oder einer Fehlkalkulation explodiert. Die Bedrohung ist derzeit so gross wie nie seit dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Oder gar grösser. Das ist leider eine realistische Lagebeurteilung.
Heisst das: Das Risiko eines Atomkriegs steht auch bei den Vereinten Nationen wieder ganz oben auf der Liste der globalen Risiken?
Ja, so ist es. Wir sehen derzeit den Klimawandel als existenzielle globale Bedrohung. Ebenso stellen Nuklearwaffen eine solche existenzielle Bedrohung dar. Wir hoffen zwar, dass die Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes niedrig ist. Doch wenn es dazu kommt, ist die ganze Menschheit in Gefahr. Das Problem bliebe nicht auf eine oder zwei Weltregionen begrenzt.
Wo muss man also ansetzen? Was lässt sich aus Ihrer Sicht tun?
Wir müssen den aktuellen Trend umkehren. Es braucht dringend eine Risikoverminderung und Deeskalation. Im Kalten Krieg bemühten sich die Sowjetunion und die USA darum. Das funktionierte recht gut.
Wir müssen zurückkehren auf den Weg einer vollständigen Eliminierung von Atomwaffen.
Derzeit fehlen derartige Bestrebungen. Risikoverminderung reicht aber nicht, sie ist nur ein Anfang. Wir müssen zurückkehren auf den Weg Richtung vollständige Eliminierung von Atomwaffen.
All das setzt aber Vertrauen zwischen den Atommächten voraus. Doch gerade dieses ist weitgehend verschwunden...
Vertrauen ist entscheidend. Aber wenn es wie derzeit überhaupt nicht vorhanden ist, muss man es schaffen. Durch konkrete Taten. Etwa durch mehr Transparenz, durch ständige Krisenkommunikation, mit Gesprächen. So würde allmählich wieder Vertrauen aufgebaut. Und so würde eine Rückkehr zur nuklearen Abrüstung wieder möglich.
Bloss scheinen momentan, ja seit längerer Zeit, all diese Prozesse vollständig blockiert oder inexistent. Oder täuscht das?
Einzelne Prozesse existieren noch. Es ist nicht so, dass gar nichts mehr passiert. Die fünf traditionellen Atommächte USA, Russland, China, Frankreich und Grossbritannien sind noch im Gespräch, allerdings nur noch auf technischer Ebene, unter Spezialisten. Regelmässige hochrangige, politische Gespräche, geschweige denn Verhandlungen fehlen. Sie müssen wieder beginnen.
Derzeit gibt es keine regelmässigen hochrangigen Gespräche – geschweige denn Verhandlungen. Sie müssen wieder beginnen.
Wir in der UNO wollen das mit einer neuen Agenda für den Frieden fördern. Darin wird die nukleare Abrüstung eine Schlüsselrolle spielen. Wir stellen dabei nicht so sehr militärische oder technologische Aspekte ins Zentrum, sondern den Menschen. Um ihn muss es hauptsächlich gehen, wenn wir von nationaler und internationaler Sicherheit sprechen.
Welche Bedeutung hat der ein halbes Jahrhundert alte Atomsperrvertrag noch, bei dessen Durchsetzung und Stärkung es seit Jahren keinerlei Fortschritte mehr gibt?
Der Vertrag bleibt enorm wichtig. Er ist im Nuklearbereich der einzige mit rechtlich verbindlichen Verpflichtungen. Zudem sind hier die fünf traditionellen Atommächte dabei, ausserdem die grosse Mehrheit aller übrigen Länder. Und schliesslich enthält der Atomsperrvertrag Verifizierungs- und Inspektionsmassnahmen durch die UNO-Atombehörde IAEA.
Die Welt braucht einen starken, relevanten und aktualisierten Atomsperrvertrag.
Es stimmt allerdings, dass der jüngste Versuch im August 2022, den Vertrag zu stärken, am Widerstand eines einzigen Landes gescheitert ist. Doch wir dürfen nicht aufgeben. Die Welt braucht einen starken, relevanten und aktualisierten Atomsperrvertrag.
Der Vertrag verpflichtet die Atommächte zur Abrüstung. Tatsächlich tun sie das Gegenteil – sie bauen ihre Arsenale aus oder modernisieren sie.
Ich erinnere an eine historische Tatsache: Es gab einmal weltweit 70'000 nukleare Gefechtsköpfe, heute sind wir bei rund 13'000. Es gab also Fortschritte. Wir beobachten indes, dass derzeit sämtliche Atommächte massiv investieren in ihre nuklearen Arsenale.
Sämtliche Atommächte investieren derzeit massiv in ihre nuklearen Arsenale.
Die meisten modernisieren sie, einige erhöhen gar die Zahl der atomaren Sprengköpfe deutlich. Die UNO fordert deshalb diese Staaten nachdrücklich auf, sich wieder an den Atomsperrvertrag und die Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung zu halten.
Seit 2021 in Kraft ist auch der UNO-Atomverbotsvertrag, demzufolge Nuklearwaffen grundsätzlich illegal sind. Ist er mehr als ein Papiertiger, zumal keine einzige Atommacht ihm beigetreten ist?
Wir betrachten ihn als wesentlichen Teil der globalen nuklearen Abrüstungsarchitektur. Er ist wichtig auf dem Weg zu einer Welt ohne Atomwaffen. Der Atomverbotsvertrag enthält zudem neue Überlegungen, etwa bezüglich Hilfe an Opfer oder Umweltschäden im Fall von Atombombeneinsätzen. Insofern ist dieser neue Vertrag ein wichtiges Element im Handwerkskasten der atomaren Abrüstung.
Der Schweizer Bundesrat dürfte demnächst über einen Beitritt zum Atomverbotsvertrag entscheiden. Würden sie ihm einen Beitritt empfehlen?
Das ist die Entscheidung eines souveränen Staates. Das Schweizer Engagement für die nukleare Abrüstung hat eine lange Tradition. Die Schweiz engagiert sich sehr für den Atomsperrvertrag und beteiligte sich aktiv an der Aushandlung des Atomverbotsvertrags –, selbst wenn sie ihn bisher nicht unterzeichnet hat. Ich bin überzeugt, dass sich die Schweiz – unabhängig davon, ob sie ihm bald beitritt oder nicht – engagiert für den Vertrag.
Das Gespräch führte Fredy Gsteiger.