Seit bald drei Monaten führt die israelische Armee in Rafah intensive Kämpfe gegen die Hamas. Die israelische Regierung kündigt ein baldiges Ende dieser Kriegsphase an, aber es gibt keinen Plan für die Zukunft des Gazastreifens. Das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung und der israelischen Geiseln hält an. Inmitten dieses Konflikts betreibt das Internationale Komitee vom Roten Kreuz ein Feldspital. Martin Schneider war dort von Mitte Mai bis Mitte Juni als Arzt tätig. Nun ist er in die Schweiz zurückgekehrt. Was hat er in Rafah erlebt?
SRF News: Wofür waren Sie im Feldspital im Kriegsgebiet in Rafah zuständig?
Martin Schneider: Ich war zum einen zuständig für die ambulanten Patienten, die das Spital aufsuchten – bis zu 300 pro Tag. Kinder, Frauen, Männer, alte Leute. Weiter war ich zuständig für das IKRK-Feldspital, das seit dem 9. Mai in Rafah geöffnet ist. Es verfügt über 60 Betten, hauptsächlich für chirurgische Patienten, aber auch für Geburtshilfe und Pädiatrie.
Das moderne Kriegsgerät macht den Konflikt sehr unvorhersehbar und gefährlich.
Wie ist die medizinische Versorgungslage im Gazastreifen?
Sie ist schwierig. Viele Praxen, Gesundheitszentren und Spitäler sind geschlossen. Die verbleibenden Einrichtungen haben viele Patienten, die sowohl ihre normalen Krankheiten als auch kriegsbedingte Verletzungen behandeln lassen müssen. Hinzu kommen Gesundheitsprobleme aufgrund des Zusammenbruchs der Wasserversorgung und der prekären Wohnsituation. Viele Menschen müssen in überfüllten Zelten leben. Man darf auch die psychologischen Schwierigkeiten nicht vergessen – nahezu alle Menschen haben Familienmitglieder verloren und sind intern vertrieben.
Welche waren die grössten Schwierigkeiten bei Ihrer Tätigkeit?
Die grösste Schwierigkeit war die Unvorhersehbarkeit. Jeden Moment konnte ein Massenanfall von Patienten auftreten. Das bedeutete, dass innerhalb kurzer Zeit 20, 25 oder 30 Patienten gleichzeitig ins Spital gebracht wurden.
Ohne palästinensische Mitarbeitende könnte das Spital seine Arbeit nicht verrichten.
Um dies zu bewältigen, haben wir ein Triage-System etabliert, bei dem erfahrene Ärztinnen und Ärzte schnell entscheiden mussten, wer sofort operiert werden muss, wer warten kann und wer nur leichte Verletzungen hat. Das klingt einfach, ist es aber nicht, wenn man den schreienden und weinenden Patienten direkt gegenübersteht. Auch die Angehörigen der Patientinnen, die körperlich unverletzt, aber traumatisiert sind, dürfen nicht vergessen werden.
Lassen sich Einsätze in anderen Kriegsgebieten mit dem im Gazastreifen vergleichen?
Ich war in der Zentralafrikanischen Republik, im Südsudan, in Burundi. Die Erfahrungen sind vergleichbar, wenn man bedenkt, dass Menschen in vielen Kriegsgebieten Familienmitglieder verlieren oder nicht wissen, wie sie genügend Essen kaufen können. Ein Unterschied in Gaza ist die Hochtechnisierung des Krieges. Das moderne Kriegsgerät macht den Konflikt sehr unvorhersehbar und gefährlich, da Angriffe jederzeit und überall stattfinden können.
Bei all diesem Leid: Haben Sie auch Positives erlebt?
Auf jeden Fall. Besonders beeindruckend war die Zusammenarbeit im Team der internationalen Mitarbeiter verschiedener Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften. Ebenso wichtig war der Einsatz und die Hilfsbereitschaft der palästinensischen Mitarbeiter im Spital – Ärzte, Krankenpfleger, Krankenschwestern, technische Arbeiter, Raumpfleger. Ohne sie könnte das Spital seine Arbeit nicht verrichten.
Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.