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Humanitäre Situation in Gaza «Die Menschen wissen nicht, wo sie sicher sind»

Als «nicht akzeptabel» taxiert die Präsidentin des Internationalen Roten Kreuzes IKRK, Mirjana Spoljaric Egger, dass im Nahostkonflikt die Zivilbevölkerung im Gazastreifen derart in Mitleidenschaft gezogen wird. Sie hat sich vor kurzem selbst ein Bild davon gemacht.

Mirjana Spoljaric

Präsidentin Internationales Komitee vom Roten Kreuz

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Die frühere Schweizer Spitzendiplomatin und UNO-Cheffunktionärin Mirjana Spoljaric Egger hat am 1. Oktober 2022 als erste Frau das Präsidium des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) übernommen. Sie studierte Philosophie, Wirtschaft und Völkerrecht an den Universitäten Basel und Genf.

SRF News: Sie waren gestern in Gaza und haben gesehen, wie schlimm die humanitäre Lage ist. Was ist für die Menschen am schwierigsten?

Mirjana Spoljaric Egger: Es ist für die Menschen im Moment unmöglich, sich in Sicherheit zu bringen. Die militärischen Operationen beider Seiten finden durchgehend statt. Rund um die Uhr wird gekämpft und die Leute wissen nicht, wo gekämpft wird. Sie können sich nicht sicher bewegen und sie wissen nicht, wo sie hingehen könnten, um in Sicherheit zu sein. Es gibt kein Quartier oder keine Strasse mehr, wo keine Häuser zerstört sind. Die Menschen gehen teilweise an den Strand, weil sie sonst nirgends mehr hinkönnen. Aber dort haben sie kein Dach über dem Kopf, keinen Zugang zu Trinkwasser und Nahrungsmittel. Für die Zivilbevölkerung ist alles abgeriegelt, nur einzelne können den Gazastreifen verlassen, und dies unter ganz grossen bürokratischen Auflagen. Die grosse Mehrheit sitzt fest und wird immer mehr in der Bewegungsfreiheit eingeschränkt.

Link zum IKRK

Angesichts der vielen Kinder, die in Gaza sterben oder verletzt werden, spricht das IKRK von einem moralischen Scheitern. An wen richtet sich dieser Vorwurf?

Er richtet sich an alle Beteiligten. Er richtet sich auch an die internationale Gemeinschaft und an alle, die Einfluss darauf haben, das Leid zu verringern.

Diese Kinder haben niemanden, der ihnen Wasser bringt oder ihnen Essen gibt.

Ich habe so viele Kinder mit schweren Verletzungen gesehen, und viele von denen haben keine Eltern mehr. Das medizinische Personal ist überfordert und erschöpft. Diese Kinder haben niemanden, der ihnen Wasser bringt oder ihnen Essen gibt. Es ist unerträglich.

Zwei Frauen mit vier Kindern sitzen auf einer Decke im Sand, ohne Dach
Legende: Nirgendwo sicher: Vertriebene Menschen in Gaza. Keystone/Hatem Ali

Was ist das Ziel der Information des IKRK?

Es muss klar sein, dass Zivilpersonen in jedem Konflikt geschützt sind. Wir müssen auf beiden Seiten sicherstellen, dass es keine oder so wenige zivile Opfer wie möglich gibt und dass diejenigen, die in diesen Konflikt hineingeraten, Zugang zu Wasser, zu Nahrung, zu Schutz und zu medizinischer Versorgung haben. Das ist nicht gewährleistet. Wir fordern auch bedingungslosen Zugang zu den Geiseln. Es ist nicht akzeptabel, dass Zivilisten in einem bewaffneten Konflikt derart leiden müssen.

Wir fordern beide Parteien auf, zu deeskalieren.

Wie sollte sich Israel verhalten?

Das humanitäre Völkerrecht ist klar, was den Schutz der Zivilbevölkerung betrifft. Das Recht auf Selbstverteidigung befreit keine Seite von der Pflicht, die Zivilbevölkerung zu schützen. Wir fordern beide Parteien auf, zu deeskalieren. Ich habe es selbst gesehen: Man wird diese Kinder nicht retten können, wenn diese Situation anhält.

Das menschliche Leid ist in jedem Konflikt enorm. Es ist auch in Sudan oder in der Ukraine nicht geringer.

Sie sind nun seit einem Jahr Präsidentin des IKRK. Inwiefern kann die Situation im Gazastreifen mit anderen Konfliktsituationen verglichen werden?

Man kann bewaffnete Konflikte nur schwer vergleichen. Die Umstände im Gaza-Konflikt sind dadurch, dass sie sich die Menschen nicht in Sicherheit bringen können, total ausserordentlich. Aber das menschliche Leid ist in jedem Konflikt enorm. Und das menschliche Leid ist im Sudan nicht geringer, auch in anderen Konfliktsituationen ist es nicht geringer. Es ist auch in der Ukraine nicht geringer.

Das Gespräch führte David Karasek.

 

Tagesgepräch, 06.12.2023, 13 Uhr ; 

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