Im Land des Halbmondes ist die Nachfrage nach Uhren, Schmuck und Gold traditionell hoch. Nun aber hat die Flucht in Sachwerte neue Rekordwerte erreicht. Grund dafür ist die seit Monaten anhaltende Hyperinflation. Diese erreicht Werte von über 80 Prozent gegenüber dem jeweiligen Vorjahreszeitraum.
Die Türkei ist im Kreis der wichtigsten Exportnationen der Schweizer Uhrenindustrie von 2020 auf 2021 zwar von Platz 22 auf Platz 21 vorgerückt. 180 Millionen CHF Umsatzvolumen im letzten Jahr spiegeln aber nur zum Teil wider, wie gross die Nachfrage nach Schweizer Uhren in der Türkei wirklich ist.
Denn die Schweizer Uhrenindustrie gesteht dem türkischen Markt nur eine bestimmte Handelsquote zu. Darüber hinaus ist auf offiziellem Wege Schluss.
Der Markt brummt
Aus diesem Grund ist Serdar Oal ein gefragter Mann. Der Uhrenexperte aus Istanbul hat beste Kontakte zu Schweizer Uhrenherstellern. Mit ihnen entwirft er seit Jahren limitierte Auflagen für den türkischen Markt.
Schweizer Luxusuhren erzielen den doppelten oder gar dreifachen Wiederverkaufswert.
Oal verfolgt die Preisentwicklung auf dem sogenannten grauen Markt, dem Markt für Occasionen, mit Staunen. Dort werden meist fabrikneue Uhren Secondhand gehandelt.
«Wenn Sie in einer offiziellen Niederlassung hier in der Türkei Uhren der vier bis fünf bedeutenden Schweizer Hersteller zum Listenpreis erhalten, können Sie diese Uhren schon am nächsten Tag zum doppelten oder dreifachen Preis auf dem grauen Markt, dem Sekundärmarkt, weiterverkaufen»
Tiefes Vertrauen in das Finanzsystem
Die gehobene türkische Mittelschicht versucht derzeit mit allen Mitteln, ihr Vermögen vor dem Währungsverfall zu sichern.
Nicht alle in der Türkei können aber einfach Auslandskonten eröffnen, und Deviseneinlagen bei inländischen Banken sind vielen zu unsicher. Das Vertrauen in das türkische Finanzsystem ist darum gering. Deshalb wird das Angesparte jetzt in Uhren, Gold und Schmuck, aber auch in teure Autos und Immobilien investiert.
Und das führt dazu, dass die Nachfrage nach Schweizer Luxusuhren stetig steigt. «Wenn Sie die Händler hier in der Türkei fragen, dann werden Sie hören: sie bekommen nicht einmal 10 Prozent der Uhren, die sie eigentlich ordern könnten.»
Die Luxusuhr als sichere Anlage
Bei dieser Flucht in Sachwerte sucht auch Schwarzgeld neue Anlageformen. Artunç Kocabalkan ist Finanzberater der Financial Centre Initiative, ein Istanbuler Thinktank, der u.a. Finanzströme untersucht.
Eine Uhr am Handgelenk ist mobiles Kapital, das man schnell überall auf der Welt wieder zu Geld machen kann.
Er sagt: «Da die Kontrollen wegen Schwarzgeld in der Türkei aufgrund der Finanz- und Wirtschaftsprobleme zunehmen, ziehen viele nicht-registriertes Schwarzgeld ab.» Damit kauften sie sich, wenn möglich, eine Schweizer Uhr. «Eine Uhr am Handgelenk ist mobiles Kapital, das man schnell überall auf der Welt wieder zu Geld machen kann.»
Auch wenn die Hyperinflation vielen Menschen in der Türkei das Leben schwer macht, gibt es immer noch genügend Türkinnen und Türken, die weiter Geldvermögen besitzen. Dieses wollen sie jetzt retten – auch mithilfe von Schweizer Uhren. Für Uhrenexperten wie Serdal Oal wird der Niedergang der Landeswährung damit zu einem lukrativen Geschäft.