Wir sind im Hochland von Ecuador, auf etwa 2500 Meter über dem Meeresspiegel. Hier in Otavalo konzentriert sich der grösste Teil der indigenen Bevölkerung des Landes. Kleinere Gruppen leben im Amazonas-Gebiet und an der Pazifikküste.
Etwa drei Autofahrstunden von der Hauptstadt Quito entfernt, gibt es hier hunderte verstreute Ureinwohner-Dörfer. Rund 60 Prozent der Indigenen in Ecuador leben – mehr schlecht als recht – von der Landwirtschaft oder als Handwerkerinnen und Handwerker.
Hüte, Röcke und Meerschweinchen
Berta, die sich einfach mit ihrem Vornamen vorstellt, näht indigene Kleidung: Hüte, Röcke, Blusen oder Poncho. Diese verkauft sie auf dem Markt im Nachbardorf.
Auf ihrem kleinen Grundstück öffnet Berta als Erstes den Meerschweinchen-Stall. Für etwa sieben Dollar sind die Tierchen zu haben, die in Ecuador nicht als Schmusetiere im Kinderzimmer enden, sondern als Delikatesse auf dem Teller.
Zwischen ihren Häusern bauen die Indigenen Kartoffeln, Quinoa und Bohnen an, für den Eigenkonsum und für den Verkauf. Aber das Geschäft laufe schlecht, sagt Berta. Armut und Arbeitslosigkeit sind in Ecuador im vergangenen Jahr auch wegen der Corona-Pandemie drastisch gestiegen. Gut ein Drittel der Bevölkerung verdient weniger als 80 US-Dollar im Monat.
«Amaschua Amaschuscha», antwortet Berta in der indigenen Sprache auf die Frage, wieso die Armut im Land so gross sei. Übersetzt bedeute das: «Lüge nicht, stehle nicht.» Die Menschen in Ecuador seien arm, weil die Regierung ihnen alles stehle, sagt Berta. Die 45-Jährige glaubt, dass alle Politikerinnen und Politiker korrupt seien.
Bertas Bruder Edwin, der vor dem Nachbarhaus einen Teich für seine Gänse baut, ergreift das Wort. «Wir Indigenen – wir sind Kämpfer! Das ist es, was uns als indigenes Volk verbindet», sagt er. «Wenn man uns die Luft abschnürt, dann machen wir weiter. Ich glaube, dass es Teil unserer Kultur ist, für ein besseres Leben zu kämpfen. Wenn wir scheitern, stehen wir wieder auf und machen weiter.»
Ich glaube, dass es Teil unserer Kultur ist, für ein besseres Leben zu kämpfen.
Ecuador wäre eigentlich ein reiches Land. Doch der Reichtum wird von wenigen Familien kontrolliert. Diese winzige Oberschicht, die Elite, verdient an den Bananen von der Küste, am Erdöl aus Amazonien, am Export der Blumen aus den Anden. Sie sind Bankiers, Landbesitzerinnen und Politiker. Ihnen erklärten die Indigenen Ende 2019 den Krieg.
Krieg gegen die Elite
Oktober 2019 in der Hauptstadt Quito: Strassenschlachten, Gummigeschosse, brennende Barrikaden. Zehntausende Indigene marschieren Richtung Quito. Frauen, Männer, Kinder, Alte. Mit Ponchos und Knüppeln – mit Panflöten und Steinen.
Die Indigenen hatten zu einem Marsch gegen die Erhöhung des Benzinpreises aufgerufen. Doch rasch wird daraus eine Protestwelle unterschiedlicher Gruppen gegen den damaligen Präsidenten Lenin Moreno. Elf Tage lang gibt es massive Demonstrationen.
Während der Proteste führte Javier Pérez als Chef des Heeres die Soldaten der ecuadorianischen Armee. Er kritisiert die Gewaltbereitschaft in Teilen der indigenen Bewegung: «Es gibt Indigene, die ihre sozialen Bedingungen und die Bedingungen des Landes verbessern wollen und dafür friedlich protestieren. Aber es gibt auch andere, die Gewalt anwenden. Was haben sie davon? Protestieren ist ein Grundrecht. Aber mit Gewalt untergraben sie jeden Protest und jedes legitime Argument.»
Es war das Militär, unter anderem unter der Führung von Javier Pérez, welches die Regierung schlussendlich zum Dialog mit den Indigenen aufforderte und dazu drängte, die Benzinpreiserhöhung zurückzunehmen.
Musik über die Proteste
Für die Indigenen war das ein Triumph. Mit den Protesten seien sie sich ihrer politischen Macht bewusst geworden. Sie hätten der Regierung gezeigt, dass sie wichtige Akteure seien, die bei politischen Entscheidungen berücksichtigt werden müssen, sagt Pérez.
In dem Song «Rikchari» rappen «Los Nin» über die Proteste vom Oktober 2019. Sie sind die erfolgreichste ecuadorianische Hip-Hop-Gruppe. Sie rappen auf Kichwa, einer der indigenen Sprachen Ecuadors. Auch sie schlossen sich der Bewegung an. Tagsüber hätten sie protestiert, nachts den Song komponiert, sagt Frontmann Sumay.
«Jeden Tag sind wir um acht Uhr morgens aufgestanden, um in der Innenstadt zu protestieren. Manchmal musste ich auch früher aufstehen, um Instrumente oder ein Studio zu organisieren. Wir alle waren in Quito bei den Protesten dabei.»
Noch während des Generalstreiks veröffentlichten sie auf Youtube das Video zum Song «Rikchari».
Pablo Ospina ist Historiker an der Anden-Universität in Quito und erforscht die indigene Bewegung in Ecuador seit Jahren. Er erklärt: Eines der Merkmale der Indigenen sei, dass sie Forderungen stellten, die nicht ausschliesslich ihnen zugutekommen.
«Die Indigenen verhandeln mit der Regierung nicht nur für sich selbst, sondern für die ganze Bevölkerung», betont Ospina. Die Indigenen seien sehr arm, aber sie seien nicht die einzigen Verarmten. Ihre Fähigkeit, die anderen verarmten Gruppen auch zu vertreten, verleihe ihnen Anerkennung und Prestige. Die Indigenen sind quasi zum Sprachrohr der gesellschaftlich Benachteiligten und Unzufriedenen geworden.
Ein weiterer Grund für die politische Kraft der Indigenen in Ecuador ist ihr Anführer Yaku Pérez.
Im Februar dieses Jahres kandidierte der Umweltaktivist bei der Präsidentschaftswahl – als erster Indigener in der Geschichte Ecuadors. Und er schrammte knapp an einem historischen Wahlausgang vorbei. Im ersten Wahlgang erhielt Pérez 20 Prozent der Wählerstimmen, wurde drittstärkster Kandidat und verpasste die Stichwahl um nur 0.2 Prozentpunkte. Ihm fehlten 30'000 Stimmen.
Pérez will den Bergbau und die Erdölförderung grundsätzlich stoppen. Das führt immer wieder zu Konflikten. Er wurde schon viermal verhaftet. «Es ist schön, wenn andere Parteien und Politiker über Ökologie reden. Aber es ist eine andere Sache, dafür zu kämpfen, eingesperrt zu sein und dein Leben zu riskieren», sagt Pérez. Das eine sei Rhetorik, das andere Praxis – «und das ist der Unterschied, der uns auszeichnet», so Pérez.
Es ist schön, wenn Parteien über Ökologie reden. Aber es ist eine andere Sache, dafür dein Leben zu riskieren.
Der neu gewählte Präsident Ecuadors, Guillermo Lasso, stösst bei den Indigenen auf breite Ablehnung. Der wirtschaftsliberale Politiker will sein Land für internationale Investoren weiter öffnen, gerade im Rohstoffsektor. Viele Indigene befürchten, dass Lasso insbesondere auf ihrem Boden Konzessionen an internationale Unternehmen vergeben werde.
Aber: Die Indigenen sind sich ihrer politischen Macht durchaus bewusst. Und sie werden nicht zögern, die neue Regierung spüren zu lassen, dass sie ein ernstzunehmender politischer Akteur sind.