Eine neue Welle der Gewalt erschüttert Ägypten. Laut Sicherheitskreisen kamen dabei am Freitag mindestens 80 Menschen ums Leben. Etwa 300 weitere sollen verletzt worden sein.
Trotz der anhaltenden Gewalt und den zahlreichen Toten wollen die Muslimbrüder ihren Protest fortsetzen. Am späten Freitagabend forderten sie ihre Anhänger auf, während einer Woche täglich zu demonstrieren. Damit wollen sie erreichen, dass der vom Militär entmachtete Ex-Präsident Mohammed Mursi wieder eingesetzt wird.
Scharfe Munition und Rhetorik
Zu den Protesten am Freitag ausgerufen hatten die Muslimbrüder und Parteien aus dem islamischen Spektrum wie die Vereinigung Dschihad.
Zunächst waren friedliche Demonstrationen am «Tag der Wut» angekündigt worden. Doch schon bald schlug die Wut in rohe Gewalt um. Radikale Islamisten forderten die Demonstranten über soziale Netzwerke auf, sich zu bewaffnen.
In der Innenstadt von Kairo setzten Sicherheitskräfte Tränengas gegen Demonstranten ein. Zehntausende Mursi-Anhänger versammelten sich hier. Anwohner warfen aus ihren Wohnungen Steine auf demonstrierende Islamisten. Diese schossen daraufhin auf die Häuser, aus denen die Steine geflogen waren.
Tote im ganzen Land
Die Zusammenstösse zwischen Islamisten und Sicherheitskräften beschränken sich nicht nur auf Kario. Aus dem ganzen Land kommen Meldungen von Augenzeugen, welche über Tote, Verletzte, den Einsatz von Waffen und Zusammenstössen berichten. Gewalttätige
Auseinandersetzungen wurden aus mehreren Städten gemeldet.
Trotz Ausgangssperre war es auch in der Nacht nicht ganz ruhig. Anwohner halfen Polizisten in der Provinz Al-Minia zu verhindern, dass ihre Kaserne im Bezirk Abu Karkas gestürmt wird. Augenzeugen berichteten, die örtliche Polizeistation sei angezündet worden.
Medien berichteten, in der Nähe des Tahrir-Platzes in Kairo seien am Morgen schon vor Ende der Ausgangssperre Schüsse zu hören gewesen. In Al-Kaljubija wurden zwei Polizisten an einer Strassensperre erschossen.
Regierung sieht nur ein Sicherheitsproblem
Die Polizei hatte vor Beginn der angekündigten Proteste Angehörige der Muslimbruderschaft verhaftet. Das Nachrichtenportal youm7 meldete, in der Provinz Al-Buhaira seien bei Razzien vier führende Mitglieder der Organisation abgeführt worden. Dies bestätigte auch SRF-Korrespondent Pascal Weber.
Weber ortet in Ägypten einen Flächenbrand. «Die zwei Männer, die hier das Sagen haben – Armeechef Assisi und Innenminister Mohammed Ibrahim, ein Polizist durch und durch – betrachten alles aus ihrer Warte: als Sicherheitsproblem.»
Da sie auch entsprechend handeln, bleibe der politische Weg aussen vor. Das sei problematisch. «Man kann nicht Millionen von Menschen und ihr Gedankengut rein als Sicherheitsproblem abtun», sagt der Korrespondent zur «Tagesschau». In Ägypten gebe es in erster Linie ein politisches Problem.
Zwar gebe es auch in der Armee hohe Offiziere, welche das jetzige Vorgehen kritisch hinterfragen. Sie würden sich Sorgen machen um die Institution Armee und deren langfristiges Renommee. «Diese Stimmen haben aber derzeit keinerlei Gewicht.»
Unternehmer Sawiris kritisiert Muslimbrüder
Der Investor und Unternehmer Samih Sawiris äussert in «10vor10» sein Unverständnis über die Muslimbruderschaft: «Irgendwie wurde das so inszeniert, dass sie (die Muslimbrüder) als Märtyrer da sterben wollten.» Man habe doch schon im Vorfeld gewusst, dass Polizei und Armee mit grösster Macht zurückschlagen, wenn man gegen sie schiesse.
Es sei für ihn ein Schock gewesen zu sehen, wie wenig ein Menschenleben bei dieser Auseinandersetzung zähle, so Sawiris.
Angst um Erhalt der Kulturgüter
Allmählich gleitet die öffentliche Ordnung an manchen Orten in bürgerkriegsähnliche Zustände ab. In vielen Strassen der Hauptstadt hatten sich in der Nacht Bürgerwehren zusammengefunden, um Plünderer abzuschrecken.
Saboteure zündeten Sprengsätze an der Bahnlinie, die den Nordwesten Ägyptens mit Alexandria und Kairo verbindet. Verletzt wurde niemand. In der Region haben islamistische Parteien viele Anhänger.
Wissenschaftler fürchten um den Erhalt der Kulturgüter in Ägypten. Es gebe weitere Plünderungen und Diebstähle, wie schon bei der Revolution vor zwei Jahren. Damals wurden ganze Magazine des ägyptischen Antikendienstes ausgeräumt. Einige der Stücke tauchten danach auf dem europäischen Kunstmarkt auf.