Allein in der Hauptstadt Tunis versammelten sich mehrere Zehntausend Menschen zu einem Trauerzug für den ermordeten Chokri Belaïd. In Sprechchören machten sie die regierenden Islamisten der Ennahda-Partei für den Tod des Oppositionspolitikers verantwortlich.
Sie umringten den auf einem Armee-Lastwagen liegenden Sarg Belaïds, als dieser aus einem Kulturzentrum im Heimatbezirk des Politikers gebracht wurde. Hunderte Polizisten in Kampfmontur hielten sich in der Habib-Bourghiba-Avenue in Tunis bereit, dem Schauplatz der jüngsten Unruhen.
Laut Augenzeugen kam es am Rande der Kundgebung zu Zusammenstössen zwischen Demonstranten und der Polizei. Die Jugendlichen warfen Schaufensterscheiben ein und plünderten Geschäfte. Die Sicherheitskräfte setzten Tränengas gegen die Randalierer ein. Grössere Ausschreitungen gab es aber zunächst nicht.
Tränengas und Brandbomben
Auch in der Stadt Gafsa versammelten sich tausende Menschen zu einer Trauerkundgebung. Auch dort sei es zu Zusammenstössen mit der Polizei gekommen, berichtete die Nachrichtenagentur Reuters. Demnach setzten die Sicherheitskräfte Tränengas gegen Demonstranten ein, die sie mit Steinen und Brandbomben bewarfen.
Wegen eines von den Gewerkschaften ausgerufenen Generalstreiks sind Banken, Fabriken und Geschäfte im ganzen Land geschlossen. Die Fluggesellschaft Tunis Air sagte alle ihre geplanten Flüge ab. Neben der mehr als 500'000 Mitglieder zählenden Gewerkschaft UGTT hatten mehrere Oppositionsparteien zu dem Streik unter dem Motto «Kampf dem Terrorismus» aufgerufen. Lediglich die Minimalversorgung der Bevölkerung solle aufrechterhalten werden.
Protest gegen die politische Gewalt im Land
Der Streik werde sehr gut befolgt, sagt Ridah Kefi. Er ist Journalist und Herausgeber des Online-Portals Kapitalis. Die Trauerkundgebungen seien vor allem ein Protest gegen die politische Gewalt in Tunesien, fügt er an. Diese habe in den vergangenen Monaten ständig zugenommen.
Der Mord an Belaïd vom Mittwoch sei bloss der Höhepunkt einer längeren Entwicklung. Bereits seit langem würden unabhängige und liberale Politiker oder Künstler eingeschüchtert und auch zusammengeschlagen, so Kefi gegenüber SRF.
Verantwortlich dafür seien Leute, die eng mit der regierenden islamistischen Ennahda-Partei verbunden seien. Deshalb würden sie von den Sicherheitskräften auch kaum bei ihren Taten behindert. Es sei die Ennahda, welche den politischen Boden für die Übergriffe vorbereit habe und die gewalttätigen Gruppen nun auch gewähren lasse, so der Publizist Kefi weiter.
Die Menschen haben genug von Ennahda
Gleichzeitig unternehme die Partei alles, um die Übergangszeit so lange wie möglich zu verlängern: Ziel der Ennahda sei es, alle Ebenen der staatlichen Verwaltung unter ihre Kontrolle zu bringen. Aber die Menschen in Tunesien hätten genug von leeren Versprechungen und Behauptungen der Islamistenpartei, sie hätte nichts mit den Gewalttaten zu tun. Darum hätten die Leute auch so empört auf die Ermordung von Chokri Belaïd reagiert, glaubt Ridah Kefi.
Regierungschef Hamadi Jebali habe dies verstanden. Er habe schon seit längerem versucht, die Regierung neu zu bilden und statt überforderter Politiker Fachleute in wichtige Ministerien wie das Innere oder die Justiz zu bringen. Nun sei er von seiner eigenen Partei im Stich gelassen worden. Das sei eine bislang einmalige Situation in Tunesien und veranschauliche die schwerste Krise, in der das Land seit der Revolution vor zwei Jahren stecke.