Es ist Montagabend, und die Menschen demonstrieren: Gegen ein Unrechtsregime, das am eigenen Volk vorbeiregiert. Gegen eine verfehlte Staatsideologie, die über dem Willen der Bürger steht. Und gegen die Unterdrückung durch eine politische Elite, die alles dem eigenen Machterhalt unterordnet. «Wir sind das Volk!», schallt es aus tausenden Kehlen. Der Aufschrei ist Anklage und Machtdemonstration zugleich: Denn bald schon wird die Stimme des Volkes nicht mehr zu überhören sein.
So oder so ähnlich haben sich die Montagsdemonstrationen von 1989 ins kollektive Gedächtnis Deutschlands eingeschrieben; und auch heute dürften viele der Überzeugung sein: Die Geschichte wird uns recht geben.
Ein Vierteljahrhundert später füllen sich nämlich die Strassen in Dresden und Leipzig wieder. Und wieder haben sich Tausende zu Montagsdemonstrationen versammelt, beseelt von einem gemeinsamen Schlachtruf: «Wir sind das Volk!».
Ähnlichkeiten ja – aber nur oberflächlich
«Die Ähnlichkeiten sind nicht zu übersehen», sagt Frank Richter. Als Pfarrer und Bürgerrechtler war er im Herbst 1989 dabei, als eine Massenbewegung den Sturz des DDR-Regimes einleitete. Heute ist er Leiter der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung – und einer der profundesten Kenner der «Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes», kurz Pegida.
Parallelen sieht Richter auch in den Emotionen, die die Bewegungen freisetzen – unter unterschiedlichen Vorzeichen: «Pegida macht Angst, und zwar vor allen Dingen den aktuell schwächsten in unserer Gesellschaft: den Flüchtlingen. Das ist widerlich und stösst mich ab.» Angst hätten zwar auch die Demonstrationen von 1989 gemacht – «aber ausschliesslich den Mächtigen.»
Mehr Rechte für alle – Entrechtung und Ausgrenzung einer wehrlosen Minderheit: Für Richter Kennzeichen zweier Bürgerbewegungen, die sich zwar oberflächlich ähneln, aber bei genauerer Betrachtung konträr gegenüberstehen: «Pegida ist eine populistische Empörungsbewegung, die kaum klare Forderungen stellt.»
Ich höre Menschen, die sagen: ‹Ihr Demokraten kriegt das nicht hin›.
Tiefere Verbindungen von heute zu damals erkennt Richter also nicht. Im Gegenteil: «Heute leben wir in einer offenen und demokratischen Gesellschaft, in der es viele Möglichkeiten gibt, sich politisch zu artikulieren und zu engagieren. Damals lebten wir unter autoritären, tendenziell totalitären Verhältnissen.»
Dieser «eklatante Unterschied» wird auch bei den Teilnehmern der so ganz anderen Montagsdemonstrationen sichtbar: «Wer heute auf die Strasse geht und ‹Wir sind das Volk!› brüllt, aber sonst weder wählen geht noch in einer Partei mitwirkt, muss sich fragen: Habe ich nicht irgendetwas falsch verstanden?»
Demokratische Reifeprüfung
Für Richter sind Zweifel an der demokratischen Reife der Pegida-Bewegung angezeigt: «Demokratie muss man immer wieder neu lernen, und man kann sie auch sehr schnell verlernen». Und Richter diagnostiziert für den deutschen Fall: «Die Neigung sich, aktiv oder passiv, autoritär zu verhalten, gibt es offensichtlich immer wieder – eine autoritäre Bequemlichkeit».
Merkels geflügeltes Wort «Wir schaffen das!» trifft hier auf seine Umkehrung: «Ich höre Menschen, die sagen: ‹Ihr Demokraten kriegt das nicht hin, das muss autoritär, mit klaren Verhältnissen gelöst werden!›» Es seien zwar nicht viele, die dies so klar formulierten, vielleicht mehr, die es so empfänden. Aber: Totalitären Verhältnissen werde in dieser Denkart grössere «politische Problemlösungskompetenz» zugesprochen als demokratischen.
Ich bin nicht sicher, dass die Demokratie ein für alle Mal gesetzt ist – sie ist jeden Tag neu gefährdet.
Für Richter ist mit Pegida ein schwelendes Gefühl an die Oberfläche geraten, das über einzelne politische Fragestellungen hinausgeht: Was am 22. Oktober 2014 in Dresden als spontane Demonstration gegen deutsche Waffenlieferungen an kurdische Peschmerga im Nordirak begann, hat sich zu einer diffusen Protestbewegung entwickelt: «Wie eine grosse Blase, die an die Oberfläche geraten und geplatzt ist.»
Die vermeintliche Islamisierung Deutschlands ist für Richter nur Symptom, nicht aber das eigentliche Problem – das Unbehagen geht weit tiefer. Dass die Gesellschaft aktuell derart zerrissen sei, stimmt ihn nachdenklich: «In der Form habe ich das noch nicht erlebt. Ich bin auch pessimistisch, dass die etablierte demokratische Politik diese Situation kompetent lösen kann.»