In Tunesien nahm der Arabische Frühling seinen Anfang. Tunesien ist gleichzeitig das einzige Land, in dem die Aufstände von 2011 zum Aufbau eines demokratischen Staates geführt haben. Anders als in Ägypten, wo mit dem neuen Machthaber Al-Sisi nun ein General brutal gegen Demonstranten vorgeht. Anders auch als in Syrien, wo sich das Regime Assads, Rebellentruppen und die radikalen Islamisten des sogenannten Islamischen Staates in einem blutigen Krieg bekämpfen.
Tunesien gilt daher als Musterbeispiel für den demokratischen Wandel nach dem Arabischen Frühling. In einem zähen Aushandlungsprozess schuf die verfassungsgebende Versammlung in Tunesien eine freiheitliche Staatsgrundlage, die im Oktober des letzten Jahres Parlamentswahlen und kurz darauf die erste demokratische Wahl eines tunesischen Staatsoberhaupts ermöglichte. Nun, vier Jahre nach dem Sturz des Autokraten Ben Ali, hat das Land eine Einheitsregierung.
Zwischen Islamisten und alter Machtelite
Der Weg dahin war geprägt von einem Machtkampf zwischen säkularen und religiösen Kräften, die um die Ausrichtung der neuen Demokratie in einem quasi rein muslimischen Staat rangen. Freiheitliche Werte wie die Gleichberechtigung von Männern und Frauen oder die Gewissensfreiheit mussten gegen Scharia-Gelüste der Islam-Partei Ennahda in der verfassungsgebenden Versammlung durchgesetzt werden.
Der unter Ben Ali verbotene tunesische Arm der sunnitisch-extremistischen Muslimbruderschaft kämpfte seinerseits gegen den Fortbestand der alten Machtelite, die sie im jetzigen Präsidenten Béji Caïd Essebsi verkörpert sieht. In der gerade gebildeten Regierung ist die Islam-Partei nun vertreten, nachdem das Kabinett ohne Ennahda zuvor abgelehnt wurde.
Junge Revolutionäre sind enttäuscht
Verloren ging im demokratischen Wandel ironischerweise aber genau die Bevölkerungsschicht, die vor vier Jahren für Veränderungen auf die Strasse gegangen ist: Die vernetzten 20- bis 35-Jährigen, die Proteste über soziale Medien organisiert hatten und dafür vom Sicherheitsapparat des abgesetzten Regenten Ben Ali verfolgt und getötet wurden.
Vielmehr als zwischen Säkularen und Islamisten bestehe nämlich ein Graben zwischen den urbanen Zentren an der Mittelmeerküste und den ländlichen, strukturschwachen Gebieten im Landesinnern, sagt Anna Antonakis. Die Politikwissenschaftlerin forscht bei der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zu den politischen und sozialen Entwicklungen in Tunesien seit Beginn der Jasminrevolution.
«Die Enttäuschung bei jungen Menschen über die politische Transformation ist gross.» Gerade dort, 250 Kilometer südlich der Hauptstadt Tunis im Landesinnern, wo sich 2011 die Proteste an der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi entzündeten, sei die Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen mit am geringsten gewesen.
Korrupte Gouverneure und hohe Arbeitslosigkeit
«Im jahrzehntelang vernachlässigten Süden herrscht vielerorts Korruption, der Ressourcenabbau verursacht massive Umweltprobleme und die Arbeitslosigkeit ist überdurchschnittlich hoch – besonders bei den Jungen.»
Auf lokaler Ebene bestehe zudem noch wenig politisches Mitbestimmungsrecht, sagt die Politikwissenschaftlerin. Die Gouverneure der einzelnen Provinzen würden noch von der Zentralregierung in Tunis eingesetzt statt von der lokalen Bevölkerung gewählt. «Da sind dringend Reformen nötig.»
Keine konfessionellen Konflikte
Warum aber arten die politischen Grabenkämpfe und die Perspektivlosigkeit grosser Teile der Bevölkerung nicht in Gewalt aus – wie etwa in Libyen, das komplett im Chaos versunken ist? Tunesien sei ein vergleichsweise kleines Land ohne eine religiöse Minderheit, die für konfessionelle Konflikte instrumentalisiert werden könnte, erklärt Antonakis. Ein vergleichsweise hoher Bildungsstandard, eine in den Zentren gut ausgebaute Zivilgesellschaft und eine schrittweise Umgehung der staatlichen Medienzensur seien Voraussetzungen gewesen, welche die Unruhen von 2011 in einem demokratischen Prozess statt in Krieg und Verwüstung münden liessen.
Sendebezug: SRF 4 News, 17.30 Uhr, vom 02.02.2015