Es herrscht Volksfeststimmung an diesem 9. Mai, auf all den Heldes- und Ruhmesplätzen in Kiew. Jung und Alt ist auf den Beinen. Die Älteren, um den Sieg der Sowjets über Nazideutschland zu feiern und die Jüngeren, um ihrer Grossväter, Väter und Brüder zu gedenken, die im zweiten Weltkrieg gefallen waren. Ukrainische Familien lassen sich vor Panzern ablichten, Grossvater, Vater, Sohn und Enkel lachen in die Kamera.
Teenager in Sonntagskleidern stehen vor dem Grab des unbekannten Soldaten. So zum Beispiel Anja, im Arm das Bild des Urgrossvaters, in der Hand die rote Nelke, in den Augen Tränen. «Für mich ist dieser Tag ein Familienfest. Wir denken an Urgrossvater, der für das Land gestorben ist, Vater und Grossvater erzählen Geschichten über ihn. Auch lachen wir darüber, was er über die Deutschen, die Faschisten, gesagt hat.»
Die Rührung wirkt echt. Propagandaparolen von Kriegsveteranen fehlen, nur Lobes- und Dankesreden sind zu hören. Und doch zeigt sich an keinem Tag deutlicher, dass gerade wegen der ukrainisch-sowjetischen Geschichte ein Riss durch die Gesellschaft geht.
Gleicher Tag mit unterschiedlicher Bedeutung
Denn für viele Ukrainer, vor allem im Westen und in der Zentralukraine, bedeutet dieser 9. Mai etwas ganz anderes: Der Beginn der sowjetischen Besatzung, der Beginn der Deportationen durch Stalin, die Erinnerung an die tödliche Hungerkrise, den Holodmor, bei dem Millionen von ukrainischen Sowjetbürgern verhungert sind.
80 Jahre ist dies her. Und doch ist es bei den jungen Menschen noch immer ein viel diskutiertes Thema, wie Ruslana sagt. Sie ist Gymnasiallehrerin im ostukrainischen Charkow und besucht Verwandte in Kiew. «Die Schülerinnen regen sich fürchterlich auf, dass die Kommunisten und viele sowjetisch geprägte Ostukrainer den Völkermord noch immer bestreiten.»
Heute stünden ihnen andere Quellen als die Parteipropaganda zur Verfügung und sie sähen, dass der Holdomor als Völkermord gelte, sagt Ruslana. Das führe zu Streit, sogar innerhalb von Familien. «Das Schlimme ist: Wenn Sie im Osten so etwas öffentlich sagen, dann werden Sie sogleich als Faschist bezeichnet.»
Lenin: Im Osten ein Held, im Westen unerwünscht
Ähnlich verhält es sich mit ihren jeweiligen Helden: Noch immer verehren die Ostukrainer Waldimir Iljitsch Lenin, dessen Statue im Westen längst niedergerissen wurde. Für die Westukrainer hingegen ist Stepan Bandera ein Held und ein Befreiungskämpfer. Ihn aber beschimpfen die Ostukrainer als Kollaborateur, der mit den Faschisten gemeinsame Sache gemacht und mit Waffen gegen die Sowjets gekämpft habe.
Alexandra aus dem westukrainsichen Lemberg bekommt dies immer wieder zu spüren, wenn sie Besuch aus der Ostukraine erhält: «Die fragen mich dann: Warum haben Sie denn ein Photo von Stepan Bandera zu Hause aufgehängt? Der ist doch ein Verbrecher! Und ich sage: Das glaube ich nicht, er hat doch einfach für die Unabhängigkeit gekämpft. Ist doch logisch, wenn das eigene Land plötzlich besetzt wird.»
Zur völlig gegensätzlich erlebten Geschichte kommen unterschiedliche Wertvorstellungen hinzu: In der Westukraine, deren Geschichte polnisch und habsburgisch geprägt ist, pflegt man den europäischen Lebensstil und die ukrainische Sprache. Im sowjetisch geprägten Osten ist die russische Kultur in der Architektur, der Musik und der Sprache präsenter als sonst wo in der Ukraine.
Geschürter Hass fällt auf fruchtbaren Boden
Solcher Gegensätze sind sich die meisten hier bewusst. Und ob sie nun aus dem Westen oder dem Osten kommen: Die meisten verstehen sich als Ukrainer. Auch Swetlana aus Kiew: «Wissen Sie, über alle Gegensätze hinweg finden sich die Leute immer wieder und es gibt Freundschaften. Da können Experten und Politiker reden was sie wollen.»
Doch der gegenseitige Hass, den die Separatisten und Extremisten auf beiden Seiten schüren, fällt zurzeit an manchen Orten auf fruchtbaren Boden. Dabei möchten die Ukrainer eigentlich nichts lieber als ein befriedetes Land – von Lemberg im Westen bis Donjezk im Osten.