SRF News Online: Nach den jüngsten Offensiven der islamistischen Terrororganisation Boko Haram schaut die Welt nach Nigeria. Was weiss man über die Anschläge?
Patrik Wülser: Die Informationen sind nach wie vor spärlich und widersprüchlich. Korrespondenten der BBC vermelden bis zu 2000 Todesopfer. Örtliche Regierungsvertreter dementieren derweil die Zahl und gehen von rund 100 Toten aus.
Stehen die Anschläge mit den Präsidentschaftswahlen in Verbindung, die Mitte Februar stattfinden sollen?
Meiner Einschätzung nach nicht unmittelbar. Die Überfälle von Boko Haram sind allerdings in den vergangenen Monaten häufiger und massiver geworden und richten sich neuerdings nicht mehr nur gezielt gegen Kirchen oder behördliche Institutionen, sondern verstärkt auch gegen die Zivilbevölkerung. Nicht selten werden ganze Dörfer ausgelöscht. Insofern sind die Voraussetzungen für die anstehenden Wahlen sicherlich denkbar ungünstig. Und wenn die Wahlen nicht wirklich demokratisch ablaufen können, ist es denkbar, dass es aus Unmut zu sozialen Unruhen kommt, die dann nicht mehr unbedingt von Boko Haram veranlasst sind, sondern von anderen Gruppierungen ausgehen.
Was will Boko Haram erreichen?
Ihre Idee ist, im Nordosten Nigerias einen islamistisch geprägten Gottesstaat zu errichten. Dafür kämpft die islamistische Miliz mittlerweile seit fünf Jahren rücksichtslos mit allen Formen der Gewalt.
Bestehen Verbindungen zur Al Kaida?
Zwar teilen sich die Mitglieder von Boko Haram und Al Kaida ähnliche Parolen und dieselbe fundamentale Auslegung des Korans, doch was ihre Befehlsstruktur betrifft, ist von keiner eigentlichen Zusammenarbeit auszugehen.
Warum kann das nigerianische Militär Boko Haram nicht aufhalten?
Polizei und Armee begehen den Fehler, dass sie die Anschläge von Boko Haram nicht untersuchen, sondern mit brachialer Gewalt vergelten. Nach Anschlägen werden nicht Täter gesucht und bestraft, sondern mit militärischer Gewalt ganze Dörfer und Regionen abgestraft. Es gibt entsprechend Schätzungen, dass von den 10'000 nigerianischen Zivilisten, die in den vergangenen fünf Jahren durch den Terror von Boko Haram ums Leben kamen, die Häfte in der Folge von Militäraktionen gestorben sind.
Wie schätzen Sie mit Blick auf die Geschehnisse in Nigeria die Bedrohungslage für Europa ein? Betreffen uns die Anschläge?
Ich sehe hier zwei Aspekte: Wenn die Staaten in West- und Zentralafrika als solche kollabieren, das heisst, nur noch als geografische Etiketten ohne funktionierende Regierung bestehen, ist weiterhin mit grossen Flüchtlingsströmen zu rechnen, die früher oder später auch den Süden unseres Kontinents erreichen könnten. Wenn die Flüchtlinge nicht vorher jämmerlich im Mittelmeer ertrunken sind. Darüber hinaus stehen wir durchaus mit in der Verantwortung, was Nigerias Rohstoffe betrifft. Insbesondere die Gewinnung und Vermarktung von Öl wird von der westlichen Welt gefördert. Die Einnahmen für die Ressource kommen aber nicht dem nigerianischen Volk zugute, sondern versickern im korrupten System.