SRF News: Wie weit sind die Taliban bereits vorgerückt?
Thomas Ruttig: Die Taliban sind in der Provinz Helmand in diesem Jahr deutlich vorgerückt. Helmand besteht aus 14 Distrikten. Die Taliban kontrollieren drei davon vollständig und mindestens sieben weitere teilweise. Momentan bedrohen sie akut vier weitere Zentren. Dazu gehört auch der Distrikt Sangin, einst eines der wichtigsten Zentren der britischen Truppen, als sie dort noch stationiert waren. Vor allen Dingen wird auch die Provinzhauptstadt Laschkar Gah jetzt gefährdet.
Was würde der Fall der Provinz Helmand an die Taliban strategisch bedeuten?
Das wäre insbesondere ein wichtiger politischer Erfolg für die Taliban. Afghanistan besteht aus 34 Provinzen. Bis jetzt befindet sich keine der Provinzhauptstädte dauerhaft unter der Kontrolle der Taliban. Ende September ist es ihnen gelungen für zwei Wochen in Nord-Afghanistan die Provinzhauptstadt von Kundus einzunehmen. Das war der erste grosse Sieg der Taliban seitdem ihr Regime 2001 durch die westliche Intervention gestürzt worden war.
Die afghanische Regierung kann den Schutz der Bevölkerung nicht mehr gewährleisten.
Laschkar Gah wäre jetzt im Grunde genommen eine Wiederholung von Kundus im eigentlichen Kernland der Taliban in Süd-Afghanistan. Das würde den Krieg aber noch nicht in eine andere Richtung bewegen. Es zeigt nur, dass die Taliban im Moment auf dem Vormarsch sind. Aber Afghanistan insgesamt steht jetzt nicht vor dem Fall. Die Situation ist jedoch durchaus bedrohlich für die afghanische Regierung, weil die Menschen sehen, dass ihr Schutz im Grunde landesweit nicht gewährleistet werden kann. Das kann zur Folge haben, dass die Legitimität der Regierung in Frage gestellt wird.
Die Taliban wären kaum in der Lage, die Provinzhauptstadt von Helmand über längere Zeit zu halten.
Passiert nun in Helmand dasselbe wie in Kundus?
Vom Ansatz her passiert dasselbe. Die Taliban nehmen die Landgebiete ein und rücken auf die Distriktzentren vor. Afghanistan hat knapp 400 Distrikte, von denen die Regierung bis auf etwa 15 bis 20 alle dauerhaft gehalten hat. Dies zeigt auch, dass die Taliban nicht so stark sind. Aber es geht auch um Prestige. In Afghanistan herrscht eine grosse Verunsicherung. Das Land befindet sich in einer tiefen Wirtschaftskrise, was man auch am Anstieg der Flüchtlingszahlen sieht. Insofern wäre der Fall der Provinzhauptstadt Helmands ein zweites Kundus. Aber die Taliban wären auch dort kaum in der Lage, die Stadt über längere Zeit zu halten. Das eigentliche Problem ist, dass sie in den ländlichen Gebieten präsent bleiben, was im Westen keine grosse Beachtung findet.
Präsident Aschraf Ghani hat nach seiner Wahl vor einem Jahr versprochen, er wolle sich für die Sicherheit und den Schutz der Menschenrechte einsetzen. Dies scheint ihm aber nicht so recht zu gelingen.
Ja, die Sicherheitssituation hat sich verschlechtert. Dies hat neulich auch das US-Verteidigungsministerium gesagt. So ist der Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan immer noch nicht vollzogen. Amerikanische und britische Spezialtruppen unterstützen die afghanischen Truppen in Helmand. Es ist nach wie vor wichtig, dass dort solche Hilfe geleistet wird. Alleine sind die afghanischen Sicherheitskräfte nicht in der Lage, die Taliban zurückzudrängen. Selbst wenn es den Regierungstruppen gelingen wird Helmand zu halten, heisst das nicht, dass es in einer anderen Provinz genau so weiter geht.
Frieden ist in Afghanistan also noch lange nicht in Sicht?
Nein, leider nicht. Friedensverhandlungen mit den Taliban sind immer wieder angestossen worden. Präsident Aschraf Ghani war kürzlich in Pakistan und hat versucht, die Regierung dazu zu bringen, die Taliban an den Verhandlungstisch zu holen.
Pakistan unterstützt die Taliban, obwohl dies offiziell abgestritten wird. Aber auch hier gibt es keinen wirklichen Fortschritt. Im Zuge der militärischen Erfolge wollen sich die Taliban auch nicht unbedingt an den Verhandlungstisch setzen, sondern erst einmal versuchen, ihre militärische Stärke zu festigen. Aber sicherlich gibt es auch bei den Taliban die Einsicht, dass man nicht um Verhandlungen herum kommen wird. Ein absoluter Sieg der Taliban ist höchstwahrscheinlich ausgeschlossen und das heisst, dass man irgendwann verhandeln muss.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy