Anne Speckhard begegnete Terroristen und Terror-Deserteuren in Tschetschenien, in den Slums von Casablanca, im Irak, in Molenbeek und in der Türkei. Und sie findet, was viele empören dürfte: «Es ist falsch, für Terroristen nicht auch Verständnis zu haben. Selbstverständlich nicht für das, was sie zu tun. Sondern für die Menschen, die sie sind. Oder besser: einmal waren.» Niemand werde als Terrorist geboren, sondern später dazu gemacht, sagt die Psychiatrie-Professorin an der renommierten Georgetown University in Washington.
Es ist falsch, für Terroristen nicht auch Verständnis zu haben.
Speckhard nennt vier Zutaten zum mörderischen Cocktail: Der Gruppendruck, das Gefühl ausgegrenzt oder benachteiligt zu sein und eine hohe Verletzlichkeit. Und dann als Rahmen eine Ideologie. In Konfliktgebieten wie Syrien oder Jemen selber kämen ausserdem materielle Beweggründe hinzu. Für Menschen in Not seien die Saläre der Terrormiliz Islamischer Staat IS schlicht attraktiv.
Nicht entscheidend sei der Islam. Das erfuhr die Terrorpsychologin in ihren zahllosen Gesprächen: «Der Islam ist zurzeit zwar das ‹Angebot des Monats›. Aber andere Ideologien wie Kommunismus, Anarchismus und christlicher Fundamentalismus könnten grundsätzlich dasselbe bewirken. Nämlich in Menschen, die sich ungerecht behandelt fühlen, Hass schüren und ihnen einen utopischen Ausweg anbieten: Respekt, Sicherheit, Abenteuer und nicht zuletzt Sex.
Der Islam ist zurzeit zwar das ‹Angebot des Monats›. Aber andere Ideologien können dasselbe bewirken.
Dass der IS im Unterschied zu anderen Terrororganisationen gerade im Westen viele Frauen anlockt, erklärt Speckhard damit, dass der Erwartungsdruck auf Frauen heutzutage noch grösser sei als auf Männer: Karriere, Ehefrau, Familie, perfekt aussehen, keine Schwäche zeigen.
Rekrutierer suchen nach dem wunden Punkt
Für Terrororganisationen und deren Rekrutierer ist laut Speckhard entscheidend, bei jedem einzelnen Menschen den Knackpunkt zu finden. Dort anzusetzen, wo er verletzt und verletzlich ist.
Sie nennt ein Beispiel aus einem Internet-Café im Brüsseler Problemviertel Molenbeek. Dort sei ein junger Mann mit Bin-Laden-Videos aus Afghanistan «angefixt» worden. Der Dschihad im Hindukusch habe ihn zwar überhaupt nicht angesprochen. Doch als ihn der Verführer auf seine angebliche Unterdrückung, seine Arbeits- und Zukunftslosigkeit angesprochen habe, habe er Feuer gefangen.
Riesiges Potenzial an Enttäuschten
Was Speckhard mit all dem auch sagt: Das Rekrutierungspotenzial für Terrororganisationen ist immens. Es zählt nicht hunderte, sondern hunderttausende, ja Millionen Menschen. Überall hadern Massen von Menschen mit sich und der Welt, erleben Diskriminierung, sind perspektivlos und voller Wut.
Die Tatsache, dass es in Weissrussland weniger Terroristen gibt als in Belgien, hat laut Speckhard nichts damit zu tun, dass Weissrussen bessere Menschen sind. Es fehlten dort einfach die Rekrutierungsnetzwerke. Reichlich potenziellen Terrornachwuchs gebe es auch dort.
Wer keinem Terrornetzwerk ausgeliefert ist, wird auch nicht Terrorist.
Wer denn Terrorismus stoppen will, muss also dreierlei tun: Erstens für eine gerechtere, diskriminierungsfreiere Welt sorgen, um so das Nachwuchsreservoir zu verringern. «Das wird nie restlos gelingen. Realistischer ist das zweite Ziel, die Terrornetzwerke auszuhebeln, die Rekrutierung zu stoppen. Denn wer keinem Terrornetzwerk ausgeliefert ist, wird auch kein Terrorist», so Speckhard. Das heisse auch, die Finanzierung von Moscheen durch radikalislamische Staaten wie Saudi-Arabien zu verbieten und fremdsprachige, dubiose Imame loszuwerden.
«Gegenerzählung»
Drittens schliesslich müsse man der aggressiven, intensiven und gutgemachten Online-Propaganda des IS endlich etwas entgegenhalten, eine sogenannte «Gegenerzählung». Dazu sollen künftig auch die Videos ihrer eigenen Gespräche mit Terroristen und Terror-Deserteuren dienen. Sie sind, dramaturgisch aufbereitet, eine kraftvolle Alternative zur Werbung und Verführung der Dschihadisten.