Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt, wie ernüchtert die ehemaligen Protestierenden des arabischen Frühlings 2011 heute sind. In den Jahren 2021 und 2022 wurden 12'000 junge Menschen zwischen 16 und 30 Jahren in elf Ländern von Marokko über Ägypten bis Irak befragt. Die Studie wurde bereits 2016 einmal durchgeführt. Jörg Gertel hat beide Studien herausgegeben und erläutert die Resultate.
SRF News: Was hat sich seit 2016 am stärksten verändert?
Jörg Gertel: Drei Punkte sind für mich wichtig: Die multiplen Krisen, die wir alle erleben, haben auch für die Leute in Nordafrika und im Nahen Osten dramatisch zugenommen. Umweltkrisen, Pandemie und Ukrainekrieg, das alles spiegelt sich in der Studie wider. Zweitens die Verarmung, die daraus folgt, und der Verlust von Lebenschancen. Gemeint ist die Situation, was im Moment ist und was eigentlich möglich wäre. Und drittens fallen die Erfahrungen mit dem, was 2011 gewünscht wurde und wo die jungen Erwachsenen heute stehen, dramatisch auseinander.
Es hat sich gezeigt, dass das, was sie an politischen Möglichkeiten erkämpft hatten, oft nicht eingelöst wurde.
Stark gesunken gegenüber der ersten Studie von 2016 ist das Ansehen, das demokratische Regierungsformen geniessen. Wo sehen Sie hierfür die Gründe?
Die demokratischen Regierungsformen waren für viele der Versuch der jungen Leute, eine Mitsprache in der Politik zu bekommen. Und dafür sind sie auch 2010/2011 auf die Strasse gegangen. Es hat sich gezeigt, dass das, was sie an politischen Möglichkeiten erkämpft hatten, oft nicht eingelöst wurde. Wir haben auch gefragt, was für die Befragten die wichtigsten Assoziationen mit der Politik sind. Nach der ersten Assoziation, dass es um die Regierung geht, kam als zweithäufigstes Wort das Wort Korruption. Und das spricht Bände.
Aus westlicher Sicht überrascht, dass der Zuspruch für den sogenannten starken Mann, der an der Spitze eines Staates steht, gross ist. Wie erklären Sie sich das?
Das ist eine gute Beobachtung, die keine einfache Antwort nach sich ziehen kann. Für junge Erwachsene, die zum Beispiel in Tunesien die Revolution angestossen haben, sind die Erfahrungen mit immer neu gewählten Regierungen nicht dazu angetan, das Vertrauen in die Politik zu verbessern. Denn Demokratie sieht komplexe Verfahrensweisen vor. Vielmehr muss man sagen, dass doch oft die Frustration zugenommen hat.
Der latente Wunsch auszuwandern, hat deutlich zugenommen, von 22 Prozent auf 34 Prozent.
Die Studie zeigt ein zunehmendes Absinken in die Armut. Ein Drittel der Befragten ist arbeitslos. Wie wirkt sich das aus, auf den Wunsch, auszuwandern?
Der Prozentsatz derer, die definitiv entschieden sind, zu gehen, hat nur von sieben Prozent auf neun Prozent zugenommen. Doch der latente Wunsch auszuwandern, hat deutlich zugenommen, von 22 Prozent auf 34 Prozent. Da haben wir die grösste Dynamik erfahren, wenn die eigenen Perspektiven im Land aufgrund der ökonomischen Schwierigkeiten und vor allem auch der politischen Schwierigkeiten schwinden.
Man sollte das nicht immer nur auf die Ökonomie reduzieren. Das tun auch viele Personen nicht. Dann wird deutlich, dass die Entscheidung zu gehen für viele als eine wesentliche Option erscheint, nicht zwingend auch nach Europa. Da gibt es auch andere Migrationsziele im arabischen Raum.
Kann man aufgrund der Studie sagen, dass die aktuellen Machthaber zurzeit keine grösseren Jugendproteste befürchten müssen?
Das glaube ich nicht. Da würde ich mich aus der Perspektive der jeweiligen Machthaberinnen und Machthaber nicht zu sicher fühlen.
Das Gespräch führte Matthias Kündig.