An der Wand sind drei Lautsprecher befestigt. Auf dem ersten läuft der Polizeifunk, auf dem zweiten die Zentrale der örtlichen Ambulanz. Der dritte ist für die Kommunikation zwischen den Rettungskräften. Kittipat Rapeepun ist einer von ihnen. Es ist kurz nach 22 Uhr. Kittipat hat Nachschicht.
Seit acht Jahren arbeitet er hauptberuflich als Sanitäter für die Ruamkatanyu-Stiftung – eine private Organisation, die den staatlichen Rettungsdienst unterstützt.
Wettrennen zwischen Ambulanzen
Oft ist Kittipat vor den Ambulanzen der staatlichen Spitäler an der Unfallstelle. Private Rettungsorganisationen waren lange dafür berüchtigt, sich untereinander um die Opfer zu streiten. Früher sei das tatsächlich ein Problem gewesen, sagt Kittipat. Die Ambulanzen der Stiftungen hätten sich Wettrennen geliefert und es sei zu Konflikten gekommen.
Heute habe man alles geografisch so aufgeteilt, dass man sich nicht gegenseitig in die Quere komme.
Wachirawit Kamploy, setzt sich dazu. Er fährt keinen Ambulanzwagen, sondern einen umgebauten Pickup-Truck. Für die Verunfallten, die Wachirawit einsammelt, kommt jede Hilfe zu spät.
«Ein Mensch, der nicht mehr atmet»
Die Arbeit mit Verkehrstoten, beteuert Wachirawit, bereite ihm überhaupt keine Probleme. «Ich habe keine Angst. Eine Leiche war zuvor auch ein Mensch, so wie wir – einfach ein Mensch, der nicht mehr atmet», erzählt er freimütig.
Wer gute Taten vollbringt, sammelt Punkte für sein Karma.
Ausserdem schade es nicht, zusätzliche Punkte im Leben zu sammeln, sagt Wachirawit und schmunzelt. Denn: Wer gute Taten vollbringt, sammelt Punkte für sein Karma, was sich wiederum – so hofft er – positiv auf sein nächstes Leben auswirken wird.
Grelles Neonlicht erhellt die Ecke am Rand des Parkplatzes. Zwischen den Spitälern schlafen Strassenhunde. Kittipat beginnt zu gähnen. Es ist kurz vor Mitternacht. Dann folgt ein Funkspruch – auf einmal sind alle hellwach.
Auf der Stadtautobahn soll ein Rollerfahrer mit einem Lastwagen kollidiert sein. Der Ambulanzfahrer sitzt bereits im Wagen. Wir setzen uns hinein und fahren los.
Mit über 140 Kilometern pro Stunde rast der Ambulanzwagen vorbei am Verkehr. Es rumpelt und schüttelt. Aber Wachirawit ist die Ruhe selbst. Erst nach einer Weile zieht er sich den Sicherheitsgurt an. Die letzten 200 Meter fährt der Krankenwagen in Gegenrichtung. Mir ist schlecht.
An der Unfallstelle angekommen ist ein roter Roller zu sehen, ein Mann mit Helm liegt am Boden. Er hat Glück im Unglück. Der Mann ist ansprechbar, er klagt über Schmerzen in den Beinen. Die Sanitäter laden ihn auf einer Trage in den Ambulanzwagen. Wir bringen ihn ins nächste Spital.
Wachirawit fährt seinen Pickup-Truck leer zurück zum Parkplatz. Er kommt dieses Mal nicht zum Einsatz.
Sichere Zebrastreifen für alle
Im Stadtzentrum von Bangkok, ein weisser Zebrastreifen auf rotem Grund. Ampeln mit Countdown-Zahlenanzeige, dazu akustische Signale und Überwachungskameras.
«Meine Freundin war immer sehr vorsichtig in allem, was sie tat. Dass ausgerechnet sie auf dem Zebrastreifen überfahren wird, kann ich noch immer nicht fassen», sagt Suwimol Prusmetikul.
Suwimol und ihre Arbeitskollegin tragen graue T-Shirts mit der Aufschrift: «Sichere Zebrastreifen für alle» und kleinen Comic-Hasen, die Hand in Hand die Strasse überqueren. «Kratai» – auf Deutsch Hase – war der Spitzname der Augenärztin, die hier vor drei Jahren überfahren wurde.
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Bild 1 von 2. Suwimol Prusmetikul und ihre Freundin tragen T-Shirts mit der Aufschrift «Sichere Zebrastreifen für alle». Bildquelle: SRF / Martin Aldrovandi.
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Bild 2 von 2. Suwimol Prusmetikul setzt sich für sichere Zebrastreifen ein. Ein Grund dafür: Sie hat ihre Freundin Waralak Supawat-Jariyakul bei einem Verkehrsunfall verloren. Bildquelle: SRF / Martin Aldrovandi.
Waralak Supawat-Jariyakul überquerte den Zebrastreifen in ihrer Nachbarschaft, als sie von einem Motorrad erfasst wurde. Der Fahrer: Ein junger Polizist, der mit seinem Motorrad ohne Nummernschild mit weit über 100 Kilometern pro Stunde durch die Stadt raste.
15 Sekunden grün für Fussgänger
Aus der anfänglichen Trauer und Wut entsteht eine Bewegung. Suwimol Prusmetikul und ihre Mitstreiterinnen haben über 70'000 Unterschriften gesammelt. Sie verlangen von den Behörden, den politischen Parteien und dem Gouverneur von Bangkok sichere Zebrastreifen.
15 Sekunden sind für viele Menschen zu knapp, um die Strasse zu überqueren. Etwa für ältere oder behinderte Menschen.
Der Fussgängerstreifen wird ausgebaut und mit Licht- und akustischen Signalen versehen. Suwimol ist noch nicht ganz zufrieden. Für viele Menschen seien 15 Sekunden zu knapp bemessen, kritisiert sie. «Etwa für ältere oder behinderte Menschen. Dieser Zebrastreifen befindet sich zudem vor einem Spital, er sollte erst recht diese Menschen berücksichtigen.»
Hohe Todeszahlen im Strassenverkehr
Verglichen mit der Schweiz sterben auf Thailands Strassen pro Kopf gerechnet rund zehnmal so viele Menschen. Thanapong Jinwong leitet das nationale Zentrum für Verkehrssicherheit in Bangkok.
Er erklärt, dass die Motorradfahrer für die meisten Verkehrsopfer verantwortlich seien. Abgesehen von riskantem Fahren und Fahren unter Alkoholeinfluss komme dazu: Viele tragen keinen Helm – obschon es eine Helmpflicht gibt. Zum einen würde zu wenig kontrolliert und zum anderen würden die Motorradfahrerinnen und -fahrer die Bussen einfach nicht bezahlen.
Die Polizei führt regelmässig Aktionen durch, um das Tragen von Helmen zu fördern und alkoholisierte Fahrer zu erwischen, insbesondere in der Zeit um grosse Feiertage. Aber auch das ist nicht einfach. «Tief in uns drinnen, sind wir überzeugt, dass es den Polizisten vor allem um ihre eigenen Vorteile geht», sagt Thanapong. Die Leute würden denken, dass die Polizei sich nicht wirklich um ihre Sicherheit kümmere.
Immerhin: Die Regierung hat einen auf fünf Jahre angelegten nationalen Masterplan für die Verkehrssicherheit ausgearbeitet, mit dem die Anzahl Verkehrsopfer bis 2027 halbiert werden soll. Pro Kopf gerechnet wären das immer noch fünfmal so viele wie in der Schweiz.
Mit dem Motorradtaxi am Stau vorbei
Boonrod Satsam schlängelt sich durch den zähflüssigen Verkehr, auf seinem Motorrad balanciert er vorbei an Autos, zwischen Bussen und Tuk-Tuks. Wenn es eng wird, müssen auch die Fahrgäste die Knie einziehen. Trotzdem sind die Motorradtaxis beliebt: Vor allem in den Stosszeiten sind sie das schnellste Verkehrsmittel auf Bangkoks Strassen.
Bis zu 90 Passagiere fährt Boonrod pro Tag. Seit über dreissig Jahren arbeitet er als Motorradtaxi-Fahrer. Heute hatte er einen kleinen Unfall. Ein anderer Motorradfahrer habe ihn angefahren. Nur der Rückspiegel sei kaputtgegangen. Ihm ist zum Glück nichts passiert.
Boonrod erzählt von einem Arbeitskollegen, der bei einem Unfall ums Leben kam. Das sei aber schon viele Jahre her. Er müsse auf sich aufpassen, weil er es sich finanziell nicht leisten könne, einen Arm oder ein Bein zu brechen.
Sicheres Gefühl dank Amulett
Boonrod zeigt sein Amulett, das er um den Hals trägt. Es zeigt einen Mönch, der der Sage nach über 500 Jahre alt wurde und überirdische Kräfte besass. «Mit diesem Amulett fühle ich mich sicher, es beschützt mich, wo immer ich auch hinfahre», sagt er.
Einige Motorradfahrer und die Mehrheit der Passagiere, die auf den Strassen zu sehen sind, tragen – trotz des hohen Unfallrisikos – keinen Helm.
Ich trage einen Helm, weil mir für eine Busse das Geld fehlt.
Boonrod sagt, er trage nur einen Helm, wenn er auf der Hauptstrasse unterwegs sei. Nicht etwa, weil es auf der Hauptstrasse gefährlicher ist, sondern weil es dort mehr Polizeikontrollen gibt. Eine Busse, sagt Boonrod, könne er sich nicht leisten.
Gratis Kinderhelme
Abendverkehr entlang der Strandpromenade in Pattaya, das etwa zwei Stunden Autofahrt südlich von Bangkok gelegen ist.
Wir stehen direkt vor der Polizeiwache. Beamte in Uniform halten Ausschau nach Motorradfahrerinnen und Motorradfahrern, die ohne Helm unterwegs sind. Mittendrin Rick Brown – der US-Amerikaner sticht heraus, er überragt die Polizeibeamten. Zusammen mit einem Vertreter des örtlichen Rotary Clubs hält er grosse und kleine Motorradhelme in den Händen.
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Bild 1 von 3. Der Amerikaner Rick Brown sticht mit seiner Grösse beim Verteilen von Gratishelmen heraus. Bildquelle: SRF / Martin Aldrovandi.
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Bild 2 von 3. Ein Polizist setzt einem Kind einen Helm auf. Damit wollen die Beamten das Bewusstsein für Sicherheit im Strassenverkehr stärken. Bildquelle: SRF / Martin Aldrovandi.
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Bild 3 von 3. Rick Brown hält mit der Polizei nach Motorradfahrern ohne Helm Ausschau. Ziel der Aktion ist es, Verkehrsunfälle zu verhindern und das Tragen von Helmen stärker durchzusetzen. Bildquelle: SRF / Martin Aldrovandi.
Rick Brown zeigt auf eine Frau mit Helm. Auf dem Motorrad sitzt aber auch ein kleines Mädchen, das keinen Helm trägt. Die Polizei winkt die Motorradfahrerin zur Seite. Ein Beamter setzt dem Mädchen einen Kinderhelm auf, schaut, ob er passt, und ermahnt das Kind, von jetzt an für seine eigene Sicherheit diesen Helm immer zu tragen.
Das Mädchen strahlt, die Mutter lächelt verlegen und bedankt sich. Rick Brown hat die Gratishelm-Aktion ins Leben gerufen. Der US-Amerikaner, der in Thailand lebt, ist eine lokale Berühmtheit. Rund 300'000 Menschen folgen ihm auf Instagram und Tiktok.
Hilfe als Therapie
Die Helm-Kampagne ist ihm sehr wichtig. Er erzählt von einem schweren Velo-Unfall, den er als Teenager zu Hause gehabt hatte. Dieser führte zu einem Wirbelsäulentrauma. Jahrzehnte später, in Thailand, wird er daran erinnert.
Ziel ist, dass jedes Kind in Thailand einen Helm besitzt.
Als er die Kinder ohne Helme auf den Motorrädern mit ihren Eltern gesehen hätte, habe er einen Schmerz im Nacken verspürt. «Alles kam wieder hoch. In dem Moment wurde mir klar, was meine Aufgabe hier sein wird», erzählt Rick.
Für jedes Kind einen Helm
Waren es im ersten Jahr noch 1000 Helme, planen er und seine Mitstreiter für dieses Jahr 10'000 Helme an Kinder und Jugendliche zu verschenken. Rick Brown hat Grosses vor. Jedes Kind in Thailand soll einen Motorradhelm besitzen. «Das wären dann 12.2 Millionen Helme», rechnet Brown vor.
Rick Brown ist sich bewusst, dass dies noch viele Jahre dauern wird. Irgendwo, sagt er, müsse man eben anfangen.