Als die libanesische Regierung Mitte Oktober eine Steuer von sechs Dollar pro Monat auf Gratis-Whatsapp-Anrufe erhob, war sie nicht gefasst auf die heftige, landesweite Reaktion. «Nicht einmal eine Stunde nach dem Regierungsbeschluss kam es überall zu Demonstrationen», sagt Mahanad Hage Ali.
«Diese erreichten erstmals auch den Süden des Landes: also die Machtzentren der schiitischen Hisbollah- und Amalmilizen, die Widerspruch gewöhnlich mit Gewalt im Keim ersticken», so der Politologe, der am Carnegie Middle East Center in Beirut arbeitet. Die Regierung nimmt die WhatsApp-Steuer umgehend zurück. Zu spät.
Ein neues libanesisches Nationalgefühl
Für Libanesinnen und Libanesen sind die überrissenen, intransparenten Handygebühren und der miserable Service der staatlichen Telefongesellschaften seit langem ein Ärgernis. Sechs Dollar im Monat sind für viele mehr als ein Tageslohn.
Die Bevölkerung hat genug und hinterfragt plötzlich die gesamte politische Ordnung, die seit dem Ende des Bürgerkrieges 1990 gilt: ein Macht-Arrangement zwischen den verschiedenen verfeindeten religiösen und politischen Clans. Geschaffen zur Verhinderung von weiteren Bürgerkriegen, hat es Korruption und Clan-Denken gefördert.
Ihr habt uns wahnsinnig gemacht – und tschüss!
Bis Anfang Jahr blieben die Demonstrationen in Libanon weitgehend friedlich. Auf den Strassen und in den sozialen Medien entdecken die Menschen ein neues Nationalgefühl und zelebrieren dieses mit viel Humor. «Warum wir Demonstranten tanzen, Wasserpfeife rauchen und Grillpartys machen? Hey sorry, das ist Libanon!» erklärt eine junge Frau auf Facebook.
Das gehöre zu den Protesten wie die libanesische Flagge, die Nationalhymne und der Revolutionssong, in dem ein verhasster Minister und dessen Mutter derb beschimpft werden. Die Botschaft an die politische Elite ist deutlich: «Ihr habt uns wahnsinnig gemacht – und tschüss!» Am 29. Oktober tritt der libanesische Premierminister Saad Hariri zurück. Doch die Demonstranten fordern weiterhin: «Alle müssen weg!»
Tuk-Tuks als Symbol der Proteste im Irak
Rasul, 21, ist Tuk-Tuk Fahrer in Bagdad. Die Drei-Rad-Taxis sind zum Symbol der irakischen Proteste geworden. Rasul fährt stolz über den Tahrir-Platz und hört den irakischen Revolutions-Song: Der Text hat nichts von der frechen Leichtigkeit des libanesischen Protest-Songs.
Hier geht es um die Bereitschaft, den Tod mit offenen Armen zu empfangen, im Kampf um ein besseres Leben. Rasul wurde fast getötet, als er auf dem Tahrir-Platz einem Schwerverletzten helfen wollte. Er zeigt auf seinem Handy ein Video, das jemand in der Nacht vom 26. Oktober gemacht hat. Im Bild ein älterer Mann, der blutend auf der Strasse liegt.
Ein Tuk-Tuk-Fahrer hat nichts zu verlieren.
«Ich wollte ihm helfen, aber er war schon tot», sagt Rasul. Man sieht, wie er den Toten bergen will, dann geht sein Tuk-Tuk in Flammen auf. Schüsse treffen erst den Motor, dann den Benzintank. Eine Kugel trifft Rasuls Bein. Er stürzt. Nachdem er selbst Dutzende Verletzte vom Tahrir-Platz ins Spital gefahren hatte, musste Rasul selbst ins Spital – danach einen Monat lang daheim bleiben, ohne Einkommen.
Auf die Frage, ob er jetzt nicht Angst habe, hier zu arbeiten, tippt er auf seinem Handy auf einen zweiten Film. Das Video zeigt einen Jungen, der mit einer Flagge ganz alleine über den Platz geht, obwohl auf ihn geschossen wird. Zwölf sei der Junge, sagt Rasul. «Wie kann ich mit 21 Angst haben, wenn dieser zwölfjährige Junge keine Angst hat? Ein Tuk-Tuk-Fahrer hat nichts zu verlieren, weil er jung und arm ist», sagt er.
Krieg und Blut sind wir uns gewöhnt. Jetzt wollen wir endlich Frieden, Freiheit und Unabhängigkeit.
Rasul hält vor einer Reihe von Zelten an. Hier lebt die 17-jährige Schülerin Isra. Sie ist Mitglied einer Gruppe, die sich für den Schutz von demonstrierenden Schülerinnen und Studenten einsetzt. Die Zelte sind Schlafplatz und Warenlager zugleich. Helme und Gasmasken für den Schutz gegen Tränengaspetarden, ein paar kugelsichere Westen.
Was sagen ihre Eltern dazu? «Mein Vater ist tot», sagt sie nur. Ein Mitglied von Isras Schülergruppe wurde entführt. Aber Angst habe sie keine. «Krieg und Blut sind wir uns gewöhnt. Jetzt wollen wir endlich Frieden, Freiheit und Unabhängigkeit.»
Von 11 auf über 100 Milizen im Irak
In Libanon wird am 27. Tag der Massenproteste zum ersten Mal jemand erschossen – von der Armee. Im Irak in der gleichen Zeit fast 200 Menschen. Täter: unbekannt. Nach einem besonders blutigen Protesttag Ende November tritt Iraks Premierminister Adel Abdul Mahdi zurück. Doch die Gewalt gegen die Demonstranten geht weiter.
«2008 gab es im Irak offiziell 11 Milizen, heute sind es über hundert», sagt der irakische Politologe Abdul Jabbar Ahmad. Die Regierung habe keine Kontrolle über diese bewaffneten Gruppierungen. Ayada Fawzi, Ökonomin an der Universität Bagdad, sieht die Gründe für diese Entwicklung in erster Linie bei Fehlentscheiden der USA nach ihrer Irak-Invasion 2003.
«Der amerikanische Zivilverwalter für den Irak, Paul Bremer, löste nach dem Sturz Saddam Husseins die Armee und die Sicherheitskräfte auf – leider», sagt sie. Macht und Verwaltung wurden ähnlich wie in Libanon aufgeteilt: religiöse Führer vergaben Posten an Verwandte und Bekannte, die dafür gar nicht qualifiziert waren. Das System vertiefte gesellschaftliche Gräben, führte zu Arbeitslosigkeit.
Terrororganisationen wie Al Kaida und der IS hatten Zulauf, im Kampf gegen den IS entstanden neue Milizen, viele davon von der schiitischen Grossmacht Iran unterstützt. Diese hat ihre Macht im Irak ausgebaut, was wiederum zu Konflikten mit den USA führt, wie jüngst die Ermordung des iranischen Generals Quassem Soleimani im Irak. Ayada Fawzi sagt: Heute machten die Jungen das Quotensystem für sämtliche Übel des Landes verantwortlich.
Frauen verhindern Gewalt in Libanon
In Beirut, zwischen dem christlichen Ain el Remmaneh und dem muslimischen Chiyah Viertel, löste eine Gewalttat 1975 den 15-jährigen libanesischen Bürgerkrieg aus. Gegen Ende 2019 droht ausgerechnet hier erneut konfessionelle Gewalt.
Marcelle Wardeh, eine maronitische Christin, und Soha Kanj, eine schiitische Muslimin, sind befreundet. Beide haben den Krieg als Kinder erlebt und fürchten deshalb neue Gewalt. In den sozialen Medien zirkulierte kürzlich ein Video von jemandem, der Hassan Nasrallah verfluchte, den übermächtigen Chef der schiitischen Hisbollah-Miliz.
Mit brennenden Flaggen provoziert
In der Nacht vom Sonntag, 8. Dezember: Krawall im Quartier. «Ich war auf meinem Balkon und sah 40 oder 50 fremde Motorradfahrer, die ‹Shia! Shia!› skandierten», sagt die Schiitin Kanj. Mit diesem Schlachtruf hätten sie die Männer im Quartier gegen ihre christlichen Nachbarn aufzuhetzen versucht.
Eine absichtliche Provokation an einem symbolträchtigen Ort des Bürgerkrieges, sagt Kanj. Sie, Marcelle und die anderen Frauen hätten ihre Männer aber beruhigen können: Indem die Musliminnen Rosen ins christliche Viertel trugen und die Christinnen jubelnd in ihr Quartier gekommen seien.
Wir haben uns längst vergeben, und nun gehen wir Hand in Hand vorwärts.
Die beiden Frauen machen die politischen Führer der konfessionellen Parteien für solche Provokationen verantwortlich. «Schande über sie, dass sie uns genau gleich gegeneinander aufhetzen wie 1975, als sie uns in den Bürgerkrieg führten! Das akzeptieren wir Libanesen nicht mehr», sagen die beiden. «Wir haben uns längst vergeben, und nun gehen wir Hand in Hand vorwärts.»
Im Unterschied zum Irak hat Libanon nicht über hundert Milizen, sondern zwei. Die mächtige Hisbollah und die verbündete Amal – beide schiitisch – sind Teil des politischen Establishments in Libanon.
Doch in den letzten zwei Monaten haben gewalttätige Konfrontationen zugenommen, einige Hundert Menschen wurden verletzt. Libanons Wirtschafts- und Finanzkrise spitzt sich immer mehr zu, die Bevölkerung kann kaum mehr Geld von ihren Konten abheben. Der neue Premierminister Hassan Diab ist gefordert. Die Hisbollah unterstützt ihn, die Demonstranten sind gegen ihn.
Demonstranten im Irak: Geschützt oder ausgeliefert?
Karbala liegt knapp 100 Kilometer südlich von Bagdad, ist Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks und gilt als heilige Stadt. 15 Millionen Pilger besuchen sie jedes Jahr. Gouverneur Naseef Jassim Al-Khattabi ist seit sieben Monaten im Amt. Sein Vorgänger musste wegen Korruptionsvorwürfen zurücktreten.
Al-Khattabi verspricht den rund 1.5 Millionen Menschen in seinem Bezirk einen Neustart. «Korruption bekämpfen, Arbeitsplätze schaffen, ein neues Wahlgesetz und Altersrenten: wir unterstützen die Forderungen der Demonstranten aktiv.»
In Karbala sorge er für auch für den Schutz der Demonstrierenden. «Von Anfang an haben wir unseren Sicherheitskräften verboten, auch nur in die Luft zu schiessen», sagt er. Verschiedene Medien berichteten aber, dass im Oktober 18 Demonstranten in Karbala erschossen worden seien. «Fake News», sagt der Gouverneur.
Gegen den Einfluss Irans
«Wahr ist: An diesem Tag verletzten gewalttätige Demonstranten 463 Sicherheitskräfte!» Hätten die Sicherheitskräfte schiessen dürfen, wären niemals so viele von ihnen verletzt worden, behauptet der Gouverneur. Anfang November versuchten Demonstranten das iranische Konsulat in Karbala zu stürmen. Drei Männer wurden dabei erschossen. Der Gouverneur bestätigt. Er habe eine Untersuchung der Morde angeordnet.
Eine heikle Angelegenheit. Denn die Demonstranten vermuten, dass auch hier iranisch gesteuerte Milizen hinter den Morden stecken. Und damit richten sich die Proteste ausgerechnet in der für Schiiten heiligen Stadt Karbala unter anderem gegen den Einfluss der schiitischen Grossmacht Iran.
Wir haben im Irak Hunderte von Untersuchungskomitees, aber Resultate produzieren sie nicht.
Ehab Al Wazni ist der Chef-Koordinator der friedlichen Demonstrationen in Karbala, die nichts mit dem Angriff aufs iranische Konsulat zu tun hätten, wie er betont. Den neuen Gouverneur findet er besser als den alten, weil er sich entschlossener um Dienstleistungen und Infrastruktur kümmere.
Dass die Morde an Demonstranten aufgeklärt werden, glaubt er hingegen nicht. «Wir haben im Irak Hunderte von Untersuchungskomitees, aber Resultate produzieren sie nicht», sagt Al Wazni. Und selbst beim besten Willen könne der Gouverneur ihn und seine Mitstreiter schlussendlich nicht schützen.
Nichts ist wertloser als irakisches Blut.
«Die ganze Welt weiss, dass uns die Banden korrupter Politiker töten. Aber die internationale Gemeinschaft sieht nichts, hört nichts, sagt nichts.» Ehab Al Wazni geht zum Demonstrationsplatz, und weiss nicht, ob er wiederkommt. «Nichts ist wertloser als irakisches Blut», sagt er bitter.
International vom 15.2.2020