Libanon ist in einer schweren Krise. Auf den Strassen der Hauptstadt ist die Lage am Samstag abermals eskaliert. «Spiegel»-Reporter Christoph Reuter lebt in Beirut und bekommt die Proteste hautnah mit.
Herr Reuter, wie verzweifelt sind die Menschen, die jetzt protestieren?
Christoph Reuter: Es protestieren nicht die ganz Armen, die nicht viel zu verlieren haben. Es ist vielmehr die Mittelschicht, die bislang relativ gut lebte, sich importierte Dinge leisten konnte und jetzt hart davon getroffen wird, dass die Währung abrutscht. Dinge des täglichen Lebens wie Brot, Benzin und Medikamente werden wöchentlich teurer – und das ist erst der Anfang der Katastrophe. Im Moment ist es noch mehr die Angst vor dem, was kommen wird als die tatsächliche Not.
Die Staatsverschuldung in Libanon ist 2019 auf über 150 Prozent des BIP gestiegen. Wie weit ist es noch bis zum Staatsbankrott?
Das weiss keiner, weil keiner den Banken traut. Die Zentralbank hat sich Geld von den Privatbanken geliehen. Diese haben die Auslandslibanesen damit gelockt, ihre Ersparnisse zu astronomischen Zinssätzen von bis zu zehn Prozent anzulegen.
Niemand weiss, wann die erste Bank Pleite geht.
Das war ein Schneeballsystem, weil diese Zinsen gezahlt wurden. Seit klar ist, dass dieses Modell nicht auf Dauer funktionieren wird, kommen keine neuen Einlagen mehr. Niemand weiss, wann die erste Bank Pleite geht und wann die Zentralbank Teile ihrer Gelder abschreiben muss. Das Schneeballsystem kann in einer Woche oder in drei Monaten einstürzen.
Inwiefern ist die vom Dollar abhängige Wirtschaft schon zum Erliegen gekommen?
Die ersten Einkaufszentren haben ihre Schliessung angekündigt, der grösste Internet-Provider will in zwei Monaten seinen Dienst einstellen, wenn der Dollarkurs sich nicht stabilisiert. Es sind viele Leute arbeitslos geworden. Die Wirtschaft hier produziert wenig. Ausser landwirtschaftlichen Produkten wird kaum etwas hergestellt. Die Wirtschaft, die auf Handel und auf Dienstleistungen basiert, gleitet sukzessive den Berg hinab.
Dazu kommt die politische Krise. Ex-Bildungsminister Hassan Diab versucht, eine Regierung zu bilden. Wie kommt er voran?
Schlecht, weil die bisherigen Machtblöcke kein Interesse daran haben, ihre Pfründe zu verlieren. Alle haben bislang davon profitiert, dass das System im Proporz festgezurrt ist.
Im Moment wirkt es so, als ob sie darum schachern, wer die schönsten Deckplätze auf einem Schiff bekommt, das insgesamt untergeht.
Jeder kriegt seine Parlamentssitze abhängig davon, ob er griechisch-orthodox, maronitisch, drusisch, sunnitisch oder schiitisch ist. Im Moment wirkt es so, als ob sie darum schachern, wer die schönsten Deckplätze auf einem Schiff bekommt, das insgesamt untergeht. Es sind zwei Monate vergangen, und man hat es noch nicht einmal geschafft, ein Technokraten-Kabinett zu bilden.
Warum ist es so schwierig, diese Experten-Regierung zu bilden?
Weil diese Experten-Regierung eine Gefahr darstellen würde für dieses korrupte, kriminelle Kartell verschiedener Machtblöcke, die sich in einem unfassbaren Ausmass bereichert haben.
Die Proteste werden wohl weitergehen. Droht eine Radikalisierung?
Ja, eine Radikalisierung kann gar nicht ausbleiben, weil die Demonstranten gegen die Symbole der Krise protestieren. Sie schmeissen die Scheiben der Banken ein, aber sie ändern nicht das System. Sie müssten im Prinzip vor den Hauptquartieren der Mächtigen auflaufen. Aber das tun sie nicht, weil sie dann wieder mit einem Fuss im Bürgerkrieg stehen. Im Moment ist das trotz der Verletzten noch Geplänkel. Man rennt gegen die Polizei an, die Polizei schiesst mit Tränengas. Aber die wirklichen Konflikte haben noch nicht einmal angefangen.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.