Die heute 28-jährige L. fristete ihren Unterhalt als Bettlerin in Genf. Dort ist, wie inzwischen in gut der Hälfte der Schweizer Kantone, das Betteln verboten. L. wurde deshalb mehrfach zu Polizeibussen von insgesamt einigen hundert Franken verurteilt. Sie konnte sie nicht bezahlen und musste als Strafe fünf Tage im Gefängnis Champ-Dollon absitzen.
Gegen die Bussen und Inhaftierung wehrte sich L. Ihre Beschwerden wurden aber von kantonalen Instanzen und vom Bundesgericht abgewiesen. Darauf gelangte sie an den EGMR, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Und der gibt ihr nun Recht, und zwar einstimmig. Das heisst, auch mit der Stimme der Schweizer Richterin am Strassburger Gerichtshof, Helen Keller. Der EGMR spricht L. zudem eine kleine, symbolische Entschädigung zu.
Verstoss gegen Menschenrechtskonvention
Die Schweiz habe mit den Bussen und der Haft gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstossen, in dem es um den Respekt des Privat- und Familienlebens geht. Aus Sicht der Strassburger Richter müsse es Menschen in finanziellen Notlagen erlaubt sein, öffentlich auf ihre Situation aufmerksam zu machen und um Almosen zu bitten.
Vor allem, wenn sie das auf nicht aggressive Weise tun. Die Bussen gegen L., so der EGMR, hätten zwar dem geltenden Recht entsprochen. Problematisch sei hingegen dieses Recht an sich, also das Bettelverbot und dessen Durchsetzung.
Der Gerichtshof behandelte den Schweizer Fall sehr grundsätzlich, da er nicht allein für die Schweiz typisch ist. Das vorliegende Urteil dürfte deshalb weitreichende Konsequenzen für zahlreiche Staaten haben. Bettelverbote oder Einschränkungen des Bettelns gibt es, so die Zusammenstellung des Gerichts, in deutlich mehr als der Hälfte der Mitgliedsländer des Europarates.
Durchgesetzt werden sie unterschiedlich hart: Die Sanktionen reichen von blossen mündlichen Verwarnungen oder Wegweisungen ohne Strafen bis zu Bussen und Haft. Bettelverbote gründen meistens im Willen der Behörden, eine Störung der öffentlichen Ordnung oder das Schikanieren von Passanten zu verhindern. Häufig werden auch Sicherheitsüberlegungen angeführt, oder der Kampf gegen die organisierte Kriminalität und die Ausbeutung von abhängigen Personen durch Drahtzieher von bettelnden Banden und Familien.
Nicht jede Form des Bettelns sei strafbar
Das Gericht in Strassburg bestreitet nicht, dass manche Formen des Bettelns problematisch sind und eine Begrenzung der Freiheit anderer nach sich ziehen. Daraus ergibt sich: Gewisse Einschränkungen sind zulässig. Es sei hingegen unverhältnismässig, gleich jegliche Form des Bettelns unter Strafe zu stellen.
Im konkreten Genfer Fall sei eine, so die Richter, «überaus verletzliche Person» unverhältnismässig bestraft worden. Eine Person, die höchstwahrscheinlich nicht imstande war, mit anderen Mitteln ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Aufgrund des Urteils der höchsten Menschenrechtsinstanz in Europa dürften die kantonalen und kommunalen Bettelverbote künftig einen schweren Stand haben. Vor allem dann, wenn sie umfassend formuliert und streng durchgesetzt werden.