Abfahrt Basel: 5:33 Uhr, Zürich 6:40 Uhr. Kurz nach der Grenze in Österreich muss Klaus aufs Klo: Weil es nirgends so ruhig ist in diesem Zug. Der ideale Ort, um einen Radiobeitrag aufzunehmen. Einzig die Durchsagen der Zugchefin unterbrechen die Aufnahme. Aber es reicht: Kurz bevor der Zug wieder losfährt und das Schlagen der Räder auf den Schienen eine Aufnahme unmöglich machen würde, ist diese im Kasten.
«Railjet» heisst unser Zug nach Wien. Wir nehmen diesen Jet auf Schienen ganz bewusst, um nicht mit dem klimaschädlichen Flugzeug just an die Klimakonferenz reisen zu müssen. Der Transparenz halber sei’s hier gesagt: zurück werden wir fliegen.
Ernüchternde Klimabilanz wegen Dreckstrom
Der Zug gilt als klimafreundliche Alternative zum Fliegen. Auf die über 5000 Kilometer lange Strecke, die wir vor uns haben, fallen die konkreten Zahlen, die die Stiftung Myclimate für uns berechnet hat, allerdings ernüchternd aus: Wir stossen auf dem Landweg knapp halb so viel Treibhausgas aus, wie wenn wir fliegen würden. Denn der Strom, mit dem der Zug in Osteuropa, in der Türkei und im Kaukasus fährt, wird noch zu grossen Teilen fossil, also aus Kohle und Gas, produziert.
Zudem schneidet das Flugzeug grundsätzlich, je weiter die Distanz, desto weniger schlecht ab, im Vergleich zu Zug und Bus. Ganz anders sieht es zum Beispiel für eine Reise aus der Schweiz nach Paris aus. Wer den TGV anstelle des Flugzeugs nimmt, belastet das Klima rund 40-mal weniger. In unserem Fall nehmen wir den Zug aber vor allem auch, um von unterwegs für SRF über diverse Klimathemen zu berichten.
Unterschätztes Klimagas Methan
Natürlich dauert unsere Reise von der Schweiz nach Aserbeidschan lange – über 80 Stunden reine Fahrzeit – und nicht immer ist sie bequem. In Budapest etwa haben wir 45 Minuten Verspätung und nur noch fünf Minuten für den Anschluss an den Nachtzug. Wir rennen halsbrecherisch mit unseren Rollkoffern quer durch die Bahnhofshalle und schaffen es nur ganz knapp. Aber die Mühen werden belohnt. In Bukarest etwa treffen wir Mihai Stoica von der Umweltorganisation 2Celsius.
Er berichtet uns vom Kampf gegen das unterschätzte Klimagas Methan – es ist 80-mal klimawirksamer als CO₂. Bei der Erdgas- und Erdölförderung in Rumänien entweicht viel mehr Methan als von der Regierung gemeldet: zwei bis fünfmal mehr, wie eine grosse Gruppe von Forschenden kürzlich herausgefunden hat. Wir besuchen Dan Dragan, den Staatssekretär im rumänischen Energieministerium. Er erklärt uns, was die Regierung und die EU nun dagegen unternehmen: Ablassen und Abfackeln von Erdgas ist unterdessen verboten und die Betreiber müssen ihre Anlagen regelmässig kontrollieren. Doch Rumänien will noch mehr Erdgas fördern als bisher. Die Energiesicherheit wird höher gewertet als der Klimaschutz.
Zwischenstopp um zwei Uhr früh
Eine böse Überraschung erwartet uns an der Grenze zur Türkei: Um zwei Uhr in der Nacht heisst es: «Alle aussteigen». Mit Sack und Pack müssen die Passagiere den Nachtzug verlassen. Wir stehen Schlange in der kalten Nacht, um unsere Pässe kontrollieren und das Gepäck durchleuchten zu lassen. Eine junge, spielende Katze zaubert den müden Passagieren doch noch ein Lächeln aufs Gesicht. Dann wieder ab ins Bett.
Vor der Einfahrt in Istanbul stehen Windräder auf den Hügeln. Doch der Eindruck täuscht, wie uns Ümit Sahin von der Sabanci-Universität in Istanbul erklärt: Die Türkei baut zwar die erneuerbaren Energien stark aus und will den Anteil an Wind- und Solarstrom die nächsten zehn Jahre vervierfachen. Doch gleichzeitig lässt sie fast 70 Kohlekraftwerke weiterlaufen und macht immer mehr Kohle aus Russland zu Strom. Sahin, Mitglied der grünen Bewegung in der Türkei, fordert für sein Land einen Ausstiegsplan aus der Kohle. Denn nur so liesse sich das erklärte Ziel Netto Null CO₂-Ausstoss bis 2053 erreichen.
Muzaffehr Polat hingegen, der Präsident der türkischen Kohleproduzenten, erklärt uns am Telefon, Kohle sei eine Lebensversicherung für die Türkei. Sie sei strategisch wichtig. Auch hier – wie in Rumänien – wertet die Regierung die Energiesicherheit höher als den Klimaschutz.
Mit über 200 Kilometer pro Stunde durch die Türkei
Wir müssen früh los, weil nur der erste Hochgeschwindigkeitszug des Tages noch freie Plätze hat. Die modernen Züge sind begehrt, weil sie bequem, schnell und günstiger sind als Inlandflüge. Seit 20 Jahren baut die Türkei am Hochgeschwindigkeitsnetz. Unterdessen verbindet es mehrere grosse Städte. Wir fahren nach Konya in der Zentraltürkei. Dort bilden sich in den letzten Jahren – angetrieben durch den Klimawandel – immer mehr Dutzende Meter tiefe Erdlöcher. Eine ungemütliche Situation für die Bauern, die Teile ihrer Äcker und ihres Einkommens verlieren.
Von Ankara bis nach Georgien nehmen wir den Bus. Das geht schneller, hat aber auch seine Schattenseiten. Denn aus dieser Perspektive kriegen wir auch die teils abenteuerlichen Überholmanöver unseres Chauffeurs hautnah mit. Entspannter reisen wir dann wieder mit dem Zug von Batumi, der ersten Stadt nach der Grenze in Georgien nach Tbilisi. In der Hauptstadt machen wir Halt.
Hier gibt es Projekte, mit denen die Schweiz CO₂-Emissionen reduzieren will, um sich die Reduktionen dann selbst anzurechnen. Es zeigt sich: Diese Auslandsreduktionen sind viel aufwändiger als ursprünglich gedacht und sie kommen entsprechend langsam voran. Was für Georgien gilt, stimmt auch für andere der zwölf Länder, in denen die Schweiz Auslandsreduktionsprojekte umsetzen will. Damit ist es heute fraglich, ob die Schweiz ihr Klimaziel bis 2030 erreicht .
Achtung: Grenze geschlossen
Von Georgien nach Aserbaidschan kommt man nur per Flugzeug. Seit Corona ist die Grenze zu – sehr zum Leidwesen der lokalen Bevölkerung. Wir haben bei den aserbaidschanischen Behörden jedoch ein Gesuch für eine Ausnahmebewilligung gestellt.
Und – vermutlich wegen der Klimakonferenz – haben wir die Bewilligung prompt bekommen. Jetzt ist die Frage, ob es wirklich klappt. Um vier Uhr morgens sind wir in Tiflis mit dem Taxi gestartet, denn eine direkte Zugverbindung gibt es leider nicht mehr. An der Grenze müssen wir erst warten. Doch dann werden wir überaus freundlich empfangen – von gleich vier Beamten. Sie scheinen sich zu freuen, dass jemand vorbeikommt. Der Taxifahrer, der uns weiter fährt zum Anschlussbahnhof, wartet jeden Morgen hier auf mögliche Passagiere. Es kämen nur ein bis zwei Personen pro Woche über die Grenze, sagt er, in manchen Wochen gar niemand. Heute sei sein Glückstag – unserer auch.
Dann geht die Fahrt durch eine weite Ebene südlich des Kaukasus. Bald sehen wir erste Ölpumpen, dann die Öl- und Gasplattformen im Kaspischen Meer. Wir sind am Ziel angekommen: in Aserbaidschan, dem diesjährigen Austragungsort der Klimakonferenz. Wie immer verarbeiten wir während der Fahrt im Zug am Laptop unsere Geschichten. Diesmal fahren wir sehr komfortabel in einem Stadler-Rail-Zug. Unser Eindruck: Die Fahrt im Zug, sie ist wie im Flug vergangen.