Sich vor einem Mann in den Sand zu werfen, der gemäss westlichen Geheimdiensten in Istanbul die Zerstückelung eines Journalisten angeordnet haben soll, ist für einen britischen Premierminister nicht ganz einfach. Dass Saudi-Arabien am Wochenende 81 Straftäter hinrichten liess, kam zudem zu einem denkbar schlechten Moment.
Downing Street wiegelt ab
Die Kommunikationsabteilung in Downing Street musste denn auch alle Register der wortakrobatischen Schadensbegrenzung ziehen: Die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien sei beim Treffen mit Kronprinz Mohammed bin Salman ein sehr wichtiges Gesprächsthema, liess die Medienstelle verlauten.
Saudi-Arabien verfügt über viele Facetten, aber die Einhaltung der Menschenrechte gehört eindeutig nicht dazu. Das Land wird von einem autokratischen Familien-Clan geführt, ist gelegentlich ein wichtiger Partner im Kampf gegen den islamistischen Terror, regelmässig ein guter Kunde der britischen Waffenindustrie, deren Produkte im vergessenen Krieg in Jemen wieder auftauchen.
Die Mission: neue Quellen erschliessen
In erster Linie ist der Wüstenstaat jedoch einer der grössten Öl-Lieferanten der Welt. Und damit sind wir beim eigentlichen Grund der Visite. Einzelne westliche Länder, die ihre Leitungen zu Russland kappen, müssen neue Quellen erschliessen.
Boris Johnson soll einen guten Draht zum Kronprinzen haben. Gemäss britischen Medien sollen die beiden ab und an sogar lustige Textnachrichten austauschen. Dies im scharfen Kontrast zum frostigen Verhältnis, das US-Präsident Joe Biden zum saudischen Prinzen pflegt. Biden kritisierte im Wahlkampf die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi in der saudischen Botschaft in Istanbul scharf.
Biden drohte gar damit, bin Salman müsse für das Verbrechen büssen. Das hat der saudische Kronprinz offenbar nicht vergessen und weigert sich seither, Telefonanrufe aus dem Weissen Haus entgegenzunehmen. Deshalb wurde wohl Johnson in die Wüste geschickt, um den verstimmten Machthaber zu hofieren.
«Ausserordentliche Situation»
Das sei kein moralischer Kniefall, sondern Realpolitik, meinte die britische Aussenministerin Liz Truss. In ausserordentlichen Situationen müsse man gelegentlich selbst mit Leuten zusammenarbeiten, deren Wertvorstellungen man nicht zu 100 Prozent teile. Der saudische Herrscher lässt zwar gelegentlich ein paar Leute hinrichten, Putin dagegen bedroht die Weltordnung. Da gelte es Konzessionen einzugehen.
Labour-Chef Keir Starmer nennt den Wüstenausflug opportunistisch. Wie wir im kommenden Winter unsere Wohnzimmer ohne russisches Öl und Gas warmhalten, kann der Oppositionsführer aber auch nicht beantworten. Eins lässt sich jedoch bereits sagen: Sich von einem Diktator zu lösen, um sich dem nächsten in die Arme zu werfen, ist keine nachhaltige Energiepolitik.