Es ist eine lange Halle in Odessa. Hier stapeln sich Babynahrung, Windeln, medizinisches Gerät. Katharina Nozhevnikova führt durch ihr Lager. Die 46-Jährige hat schon lange vor dem russischen Überfall angefangen, überall dort zu helfen, wo der ukrainische Staat versagt: Sie besorgte Kleider für Waisen, sie lieferte während der Covid-Pandemie Beatmungsgeräte an Spitäler. Doch jetzt ist Krieg – und Nozhevnikova braucht es mehr denn je.
Ihr privates Hilfswerk ist eines der grössten in der Ukraine. Jeden Monat erhält Nozhevnikova kleine und mittlere Spenden – und kauft davon alles, was Zivilisten und Armee in der Ukraine am meisten brauchen.
Nozhevnikova öffnet eine tarnfarbene Tasche. Darin sind etwa Verbandsmaterial oder sogenannte Tourniquets, mit denen ein Arm oder ein Bein abgebunden werden kann, um eine starke Blutung zu stoppen. «Wir wollen, dass jeder Soldat eine gute Feldapotheke hat», sagt Nozhevnikova. «In dieser Frage streiten wir heftig mit dem Staat.
Denn bis heute werden viele unserer Soldaten mit gefälschten chinesischen Billigapotheken ausgestattet – wenn überhaupt.» Die Behörden würden zwar behaupten, alle Kämpfer seien gut ausgerüstet – aber das stimme nicht.
Wenn bei mir das Haus brennt, gehe ich auch nicht Bücher kaufen, dann kaufe ich einen Feuerlöscher.
Nozhevnikova hat ohnehin grosse Mühe mit dem Verhalten einiger Politiker, Beamten und Militärführer. «Die, die korrupt und unfähig waren, sind es zum Teil immer noch. Wir hatten gehofft, dass der Krieg die Menschen ändert, aber das ist nicht geschehen.»
So würden Soldaten an der Front sterben, weil sie schlecht ausgerüstet seien. «Und der Staat gibt Unsummen für eine neue Strassenkreuzung aus oder will ein Museum bauen. Ich kann das nicht verstehen. Wenn bei mir das Haus brennt, gehe ich auch nicht Bücher kaufen, dann kaufe ich einen Feuerlöscher.»
Nozhevnikovas Kritik müsste ein Alarmsignal sein für die Regierung in Kiew. Denn wenn im Westen der Eindruck entsteht, in der Ukraine grassiere die Korruption weiterhin ungehindert, wäre das fatal für das Land. Ohne westliche Waffen und Finanzhilfe wäre die Ukraine kaum in der Lage, sich weiter erfolgreich gegen die russischen Invasoren zu wehren.
Ein Land lehnt sich auf
Gleichzeitig ist die Kritik der Aktivistin auch der Beweis, dass die Ukraine ein freies Land ist – und eines, in dem eine unabhängige Zivilgesellschaft dem Staat auf die Finger schaut, in dem Medien über solche Skandale berichten.
Und das ist auch ein wichtiger Unterschied zu Russland in diesem Krieg: In der Ukraine führt nicht einfach nur der Staat den Abwehrkampf. Grosse Teile der Gesellschaft helfen der Armee: mit Spenden etwa oder Materiallieferungen – bis hin zu Kampfgerät.
Die Freiwilligen rund um Nozhevnikova arbeiten bis an die Belastungsgrenze. Frei habe sie seit Kriegsbeginn nie genommen, sagt die Hilfswerk-Chefin. Ferien mache sie erst, wenn der Krieg vorbei sei. Das aber, fürchtet sie, kann noch lange dauern. «Russland hat die grösseren Ressourcen als wir. Wir sind einfach weniger, wir haben weniger Geld. Wir erleiden jeden Tag riesige Verluste. Jeden Tag streiche ich Telefonnummern von Leuten, die nie mehr zurückkehren, die nie mehr anrufen werden. Wenn das so weitergeht, werden wir nicht durchhalten.»
Die Ukraine kämpft um ihr Überleben als unabhängiger Staat. So sieht es auch Katharina Nozhevnikova. Und deswegen, sagt sie, sei sie auch bereit, selbst kämpfen zu gehen, falls das irgendwann nötig werde.