Mehr als 1000 Kilometer misst die Grenze zwischen Belarus und der Ukraine. Das Dorf Dniprowskje liegt knapp 130 Kilometer nördlich von der ukrainischen Hauptstadt Kiew und nur 800 Meter von der belarussischen Grenze entfernt.
Die Bürgermeisterin, Walentina Derkatsch, erinnert sich noch an die Zeiten vor Kriegsausbruch: «Zu Friedenszeiten gingen die Leute aus dem Dorf ständig über die Grenze nach Belarus. Es hiess, dort gebe es Waldbeeren. Die Leute sind mit Booten über den Fluss gefahren und haben Beeren und Pilze gepflückt.»
Mit dem 24. Februar änderte sich das Leben auch komplett für die Dorfbewohner. Seither ist an Bootsfahrten über den Grenzfluss nicht mehr zu denken. Die ukrainische Armee hat die nächstgelegene Brücke gesprengt, um einen Vormarsch der russischen Truppen mit schwerer Militärtechnik aufzuhalten.
Hoffnung in die Landesverteidiger
Soldaten der russischen Armee gelangten trotzdem ins Dorf und kamen auch bei Walentina Derkatsch vorbei: «Sie kamen damals in jedes Haus und fragten: ‹Leben Fremde hier? Haben Sie Waffen? Wer wohnt hier?›, lauter solche Fragen stellten sie.» Ans Wegfahren dachte die Bürgermeisterin trotzdem keinen Moment lang. «Wohin sollen wir denn fahren? Wir leben und arbeiten hier. Von den Einheimischen hier habe ich von keinem gehört, dass sie irgendwohin fahren wollten.»
Die meisten Einwohner von Dniprowskje sind im Pensionsalter. Junge Leute wanderten seit Jahren aus den Dörfern in der Grenzregion in die Regionshauptstadt Tschernihiw oder nach Kiew ab. Hier verlassen sich die Menschen vor allem auf die ukrainische Armee und die Grenzwache – und darauf, dass diese besser vorbereitet sind als noch vor einem Jahr.
Ersatz für Gefallene und Verwundete
Von der ukrainischen Grenzwache wird betont, dass die Situation an der belarussisch-ukrainischen Grenze völlig unter Kontrolle sei. Der Aufmarsch von Truppen und Militärtechnik auf belarussischer Seite sei zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht gross genug für eine erneute Grossinvasion aus dem Norden, eine solche sei aber dennoch nicht auszuschliessen, ist Sicherheitsexperte Oleksij Melnyk überzeugt.
«Aus heutiger Sicht gibt es ziemlich gute Gründe für die Annahme, dass Russland innerhalb von zwei, fünf oder sechs Wochen das Potenzial haben wird, um eine weitere Offensive zu starten. Das lässt sich unter anderem daran erkennen, dass Russland viel unternommen hat, um seine Verluste an der Front auszugleichen», so Melnyk.
Eine ausweglose Situation für Putin
Der ehemalige Berater des ukrainischen Verteidigungsministeriums geht davon aus, dass Russland zwischen Ende Februar bis Anfang März 150'000 Mann an die Front schicken könnte. Mögliche Versuche, die Ukraine erneut über die belarussisch-ukrainische Grenze anzugreifen, hält der Experte jedoch für selbstzerstörerische Aktionen von russischer Seite: «Seit die ukrainische Seite im März wieder die Kontrolle über die Grenzregion erlangte, wurde alles unternommen, um eine erneute Offensive maximal zu erschweren. Hinzu kommt, dass von der gemeinsamen Grenze zwischen der Ukraine und Belarus nur ein Zehntel physisch zu überqueren ist. Der Rest des Gebietes ist von Sümpfen und Wäldern überzogen.»
Von offizieller Seite will man in der Ukraine dennoch nicht ausschliessen, dass es zu einer erneuten Offensive kommen könnte. «Was Putin am 24. Februar begonnen hat, gibt ihm keine Chance, aufzuhören. Entweder fährt er mit dem Krieg fort oder er wird in Russland von inneren Kräften gestürzt», ist der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, Olekskij Danilow, überzeugt.