In keinem Land sind in den letzten Wochen so viele Geflüchtete aus der Ukraine angekommen wie in Polen. Seit Kriegsbeginn sind es rund zwei Millionen. Bundespräsident Ignazio Cassis ist am Sonntag nach Polen gereist und hat sich ein Bild von der Situation vor Ort gemacht. Am Montagvormittag hat er in Warschau den polnischen Regierungschef Mateusz Morawiecki getroffen.
Im Gespräch mit SRF News gibt Cassis Auskunft über die Ergebnisse des Treffens – und nimmt Stellung zur Kritik der SVP an seinem Auftritt an der Ukraine-Demonstration vom Samstag auf dem Bundesplatz.
SRF News: Welche Hilfe erwartet der polnische Ministerpräsident Morawiecki konkret von der Schweiz?
Ignazio Cassis: Polens erster Wunsch sind eigentlich Waffenlieferungen (die in die Ukraine gelangen sollen, Anm. d. Red.). Das ist aber nicht mit unserer Neutralität kompatibel. Das habe ich Mateusz Morawiecki ganz klar erklärt und das hat er zur Kenntnis genommen. Dann erwartet der polnische Regierungschef natürlich volle Unterstützung bei den Sanktionen. Ich habe ihm gesagt, dass wir diese bislang nicht nur vollumfänglich unterstützt haben, sondern sogar weiter gegangen sind.
Die Elemente zu Kryptowährungen sind in unserem Gesetz bereits enthalten. Hier ist die EU noch nicht so weit. Schliesslich erwartet Morawiecki grosse Unterstützung von der Schweiz, sowohl diplomatisch wie auch humanitär. An der Grenze und idealerweise auch in der Ukraine selbst, sobald humanitäre Korridore möglich sind.
Der Bundesrat will die finanzielle Hilfe auf 80 Millionen Franken aufstocken. Ein Viertel davon soll in die umliegenden Länder der Ukraine fliessen, die derzeit die meisten Flüchtlinge aufnehmen. In Polen sagen viele Leute, mit denen man spricht, das sei knausrig. Was sagen Sie diesen Menschen?
Ich kann ihnen sagen, dass diese 80 Millionen Franken, die der Bundesrat gesprochen hat, nur ein Teil der Hilfe sind. Sie werden den Geldern nur hinzugefügt. Ich habe dem polnischen Premierminister gesagt, dass wir willig sind, sehr rasch die zur Verfügung stehenden 320 Millionen Franken im Rahmen des zweiten Kohäsionsbeitrags der Schweiz freizugeben. Das können wir bilateral sehr schnell machen. Morawiecki war sehr interessiert daran.
Dazu kommt die grosse Solidarität der Schweizer Bevölkerung. In einer Woche wurden fast 84 Millionen Franken gesammelt. Wenn man alles zusammenzählt, kommt man also auf gute Zahlen.
Bei der Kohäsionsmilliarde handelt es sich um bereits gesprochenes Geld, der Entschluss liegt lange zurück. In dieser Situation erwartet Polen ja Ausserordentliches von Westeuropa und der Schweiz.
Polen ist schon sehr zufrieden, wenn es das versprochene Geld auch tatsächlich bekommt.
Neutralität heisst nicht Indifferenz. Neutralität heisst aber, dass wir keine Waffen liefern können.
Inzwischen sind ungefähr 10'000 Geflüchtete aus der Ukraine in der Schweiz angekommen. Die Kantone rechnen mit bis zu 300'000 Menschen. Ist die Schweiz bereit für so einen Ansturm?
Es ist eine schwierige Frage. Denn wir sind eine Migration von so vielen Schutzsuchenden in so kurzer Zeit nicht gewohnt. Wir haben keine Erfahrungswerte, auf die wir uns hier stützen können. Wir bereiten uns derzeit im Höchsttempo vor und suchen nach Lösungen. Der Bund verfügt über nicht einmal 10'000 Plätze zur Unterkunft. Die Kantone und der Bund sind zusammen zuständig für den Empfang und die Aufnahme der Geflüchteten und die entsprechenden Vorbereitungen.
Ich möchte noch einmal die grosse Solidarität der Schweizer Bevölkerung betonen. Es wurden 50'000 Plätze zur Verfügung gestellt. Wie lange eine solche Lösung trägt, ist offen. Die Aufnahmewilligen müssen sich für drei Monate verpflichten. Diese Zeit ist relativ schnell vorbei. Es gibt also sehr viele offene Fragen. Wir wissen nur: Wir sind willens, diese Fragen zu klären und uns bestmöglich vorzubereiten, um diese Leute zu empfangen.
Die Schweiz hat sich den EU-Sanktionen angeschlossen, bleibt aber neutral. Wie erklärt man das einem Land wie Polen und seinem Ministerpräsidenten Morawiecki, der sehr viel mehr fordert – auch einen deutlicheren Positionsbezug.
Er hat es selber gesagt und offenbar meinen Text in den Medien gelesen, worüber ich sehr glücklich war: Neutralität heisst nicht Indifferenz. Die Übernahme von Sanktionen ist voll und ganz mit unserer Neutralität kompatibel. Neutralität bedeutet nicht, dass wir eine krasse Verletzung des Völkerrechts nicht verurteilen können. Wir müssen das verurteilen, denn dadurch werden unsere Werte verletzt. Neutralität heisst aber, dass wir keine Waffen liefern können. Diese Grenze habe ich gegenüber Morawiecki klar aufgezeigt.
Wenn ein Präsident an die Tür klopft und virtuell in der Schweiz auftreten möchte, weil er dies physisch nicht kommen kann – dann ist es meine Pflicht diese Tür zu öffnen und ihn willkommen zu heissen.
Sie wurden für Ihren Auftritt auf dem Bundesplatz vom Samstag zum Teil heftig kritisiert, namentlich von der SVP. Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Neutralität und Haltung zeigen?
Es geht jetzt darum, den richtigen Weg bei einer Gratwanderung zu finden. Ich habe bereits gesagt, was Neutralität bedeutet.
Wenn ein Präsident an die Tür klopft und virtuell in der Schweiz auftreten möchte, weil er dies physisch nicht tun kann – dann ist es meine Pflicht diese Tür zu öffnen und ihn willkommen zu heissen. Das war der Grund meiner Präsenz am Samstag auf dem Bundesplatz.
Das Gespräch führten die Osteuropa-Korrespondenten Roman Fillinger und Sarah Nowotny.