Nach Beginn des Angriffs auf die Ukraine war der russischen Wirtschaftsführung klar: Wegen immer strengerer Sanktionen wird die direkte Einfuhr westlicher Produkte langfristig unmöglich.
Durch sogenannte Parallelimporte wollte das Moskauer Handelsministerium den Ausschluss vom Weltmarkt verhindern und stellte eine 23-seitige Liste zusammen von Autos und Ersatzteilen, Mobiltelefonen, Haushaltsgeräten bis hin zu Kosmetikprodukten. Diese für den zivilen Konsum deklarierten Güter sollten von nun an aus Asien, Europa und Amerika den Weg über Drittstaaten nach Russland finden.
Exporte nach Russland mit Hochkonjunktur
Von diesem Transitmarkt profitiert die Türkei. Das Land auf der Haupthandelsroute zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer hat seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine den Export Richtung Russland um 86 Prozent gesteigert.
Für Serhat Güvenç, Professor für Internationale Beziehungen an der Istanbuler Kadir Has Universität, ist klar: «Als Drehscheibe für den Handel mit Russland sieht Präsident Recep Tayyip Erdogan eine Chance, seinem Land in der anhaltenden Inflations- und Währungskrise neue Kraft zu geben.» Denn die Häfen von Mersin, Izmir und Istanbul sind mittlerweile voll mit Waren, die nur darauf warten, weiter Richtung russische Schwarzmeerhäfen verschifft zu werden.
Auch Mahmut Işık, Geschäftsführer von Medkon Lines, einem der führenden türkischen Transportunternehmen, bestätigt: «Da die grossen internationalen Cargounternehmen wegen des Embargos ihre Verbindungen nach Russland gekappt haben, laufen ihre Schiffe nun unsere Häfen an. Hier werden die Waren entladen und mithilfe kleinerer türkischer, arabischer oder russischer Schifffahrtsunternehmen Richtung Schwarzes Meer weiterbefördert.»
Das geht legal, denn die Türkei beteiligt sich am westlichen Embargo gegen Russland nicht. Ankara erklärt diesen Kurs so: Wirtschaftsembargos würden nur unterschrieben, wenn diese vom UNO-Sicherheitsrat abgesegnet worden seien. Weil Russland dort allerdings ein Vetorecht hat, dürfte dieses Szenario kaum eintreffen.
Plötzlich verschwindet der Absender
Aber auch europäische Exporteure versuchen, über den Umweg Türkei weiterhin mit Russland im Geschäft zu bleiben. Um aber mit Brüssel und der US-Regierung nicht in Schwierigkeiten zu geraten, erhalten die Container neue Identitäten.
«Wenn ein Exporteur aus Italien zum Beispiel seinen Namen auf den Frachtpapieren Richtung Russland nicht sehen will, verkauft er seine Ware zuerst an ein Drittland wie die Türkei. Von dort gehen Fracht und Papiere dann mit neuem Absender weiter,» erklärt Cihan Özkal, Vorstandsmitglied des türkischen Logistik-Verbandes Utikad.
Westen befürchtet Zweckentfremdung
Die USA und die EU wollen diesem Treiben ein Ende setzen. Vor allem die Regierung von Joe Biden setzt die Türkei immer mehr unter Druck. Die Sorge ist gross, dass durch den Warenhandel zivile Konsumprodukte militärisch zweckentfremdet werden.
Serhat Güvenç zitiert das Beispiel türkischer Waschmaschinen: «Schon nach dem Georgien-Krieg vor zehn Jahren explodierten die Ausfuhren türkischer Haushaltsgeräte. Damals hiess es, die Chips in Waschmaschinen würden die Russen in ihrer Rüstungsindustrie verwenden.»
Washington sieht jetzt eine rote Linie, die Regierung in Ankara gerät immer mehr unter Druck und muss sich neu positionieren im Konflikt zwischen Russland und dem Westen.