Im Tanzstudio von Maria Kraft und Nazar Mikhalyk in der Warschauer Innenstadt dreht sich die Welt im Takt des argentinischen Tangos. Auch heute. Beobachtet von Kater Osvaldo üben drei Paare eine neue Drehung.
Eine Tanzstunde lang herrscht Normalität in der Welt von Maria und Nazar. Eine Insel in dieser Welt, die mit dem russischen Angriff auf die Ukraine völlig aus dem Takt geraten ist.
Gelähmt von Sorge und Hilflosigkeit
«Letzte Nacht haben wir zum ersten Mal seit dem russischen Angriff wieder richtig geschlafen», erzählen die beiden. Vorher hätten sie nächtelang keine Ruhe gefunden.
Zu gross war die Sorge um Nazars Familie in der Ukraine: Seine Mutter, seine Schwester und deren zwei kleine Kinder standen eineinhalb Tage in der Schlange an der ukrainisch-polnischen Grenze, warteten dort in der Kälte auf den Übertritt vom Krieg in den Frieden.
Hilfe als Befreiung
Die Sorge und die Hilflosigkeit angesichts dieses Kriegs habe sie gelähmt. «Erst die Entscheidung, auf eigene Faust Hilfe für die Kämpfer in der Ukraine zu organisieren, hat uns aus der Schockstarre befreit», sagt Nazar, der Ukrainer.
Seit wir diese Entscheidung getroffen haben, kann ich mich wieder konzentrieren, muss nicht mehr alle fünf Minuten auf dem Handy die neuesten Nachrichten lesen.
Maria, die Russin, pflichtet ihm bei: «Seit wir diese Entscheidung getroffen haben, kann ich mich wieder konzentrieren, muss nicht mehr alle fünf Minuten auf dem Handy die neuesten Nachrichten lesen.»
Ein Tango-Freund der beiden ist bei der Freiwilligentruppe der ukrainischen Armee. Er hat den beiden eine Liste geschickt mit Dingen, die seine Brigade in der westukrainischen Grossstadt Lwiw braucht: Medikamente, Verbandszeug, Funkgeräte.
Nazar und Maria haben diese Liste dort geteilt, wo sie sonst Werbung machen für Tango-Veranstaltungen: in den sozialen Medien. Statt Tänzerinnen und Tänzer haben sie dieses Mal zwei Welten zusammengebracht – die ukrainischen Kämpfer in Lwiw und die Tangoszene. Nazar sagt: «Quasi über Nacht ist unsere Tanzschule zum Koordinationszentrum geworden.»
Vor einer Vitrine mit hochhackigen Tangoschuhen türmen sich Kartons voller Medikamente. Tangotänzerinnen und -Tänzer aus Warschau haben sie vorbeigebracht; Lieferungen aus Deutschland und Lettland sind noch unterwegs.
«Wir können auch später noch Leben retten»
Es gibt in Polen eine ganze Reihe von Organisationen, die Hilfe für die ukrainischen Truppen organisieren. Ist es da überhaupt sinnvoll, selbst Material zu sammeln und in die Ukrainer zu bringen?
«Ja», findet der 37-jährige Nazar. «Ich selbst will auch wissen, wo meine Spende hingeht, was sie bewirkt. Das geht vielen Leuten so.» Maria und Nazar versprechen, dass für jede Spende dokumentiert wird, wo sie landet.
Ich selbst will auch wissen, wo meine Spende hingeht, was sie bewirkt.
Noch wissen die Tangolehrer nicht genau, wie sie das gesammelte Material über die Grenze zu den ukrainischen Kämpfern bringen. Aber das eile auch nicht so sehr, findet Nazar: «Wir können auch später noch Leben retten. Vielleicht ist jetzt nicht einmal der beste Zeitpunkt, um das Material zu liefern.»
Der Grund: Jetzt wollten alle helfen. Aber das werde sich ändern. Die Leute würden sich an den Krieg in der Ukraine gewöhnen, die Hilfsbereitschaft werde nachlassen. Maria und Nazar wollen auch dann noch helfen. Sie stellen sich auf ein langes Engagement ein.
Ein bisschen Kontrolle
«Hilfe zu organisieren, gibt uns wenigstens einen kleinen Bereich, den wir unter Kontrolle haben», sagt das Ehepaar. Das ist viel wert in dieser Zeit, in der die Ungewissheit so sehr an den beiden nagt.
Die Mutter, die Schwester und die Neffen des Ukrainers Nazar sind zwar in Sicherheit in Polen. Aber sein Vater und viele Freunde sind immer noch in der Ukraine. Und Marias Eltern leben in Russland, auf der anderen Seite dieses Kriegs.
Abgeschnitten von den Eltern in Russland
«Meine Eltern verstehen gar nicht, was passiert. Es ist schwierig für sie, in Russland an gute Informationen zu kommen», sagt Maria. Was die Tochter in Polen und die Eltern in Russland verbindet: Alle leiden sie unter der Ungewissheit.
«Ich überlege immer wieder, wann ich meine Eltern wieder sehen kann. Ich habe keine Ahnung. Im Moment ist es unmöglich.» Russland ist abgeschnitten von Europa. Kommt dazu: Mit ihrem Engagement für ukrainische Kämpfer riskiert Maria Repressalien, sollte sie in ihre russische Heimat reisen.
Es braucht wohl ein Wunder. Aber ich wünsche so sehr, dass wieder Frieden ist.
Maria und Nazar flüchten sich in die Arbeit und die Organisation von Hilfe für die Ukraine. Sie sind pragmatisch, tatkräftig. Und doch schleicht sich immer wieder die Traurigkeit in ihre Augen. Maria sagt, es brauche wohl ein Wunder. Aber sie wünsche sich so sehr, dass wieder Frieden sei.