Er ist in der ehemaligen Sowjetunion geboren und nun ein scharfer Kritiker des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Garri Kasparow, einst Schachweltmeister, spricht in Zürich über Taktik, Schwarz und Weiss und den Vergleich von Schach mit dem Krieg in der Ukraine.
SRF News: Was bedeutet der russische Rückzug aus Cherson? Taktik?
Garri Kasparow: Es ist beides. Taktik und Strategie. Der russische Präsident Wladimir Putin muss seine fähigsten Truppen in der Ukraine schützen und retten. Deshalb opfert er auch Tausende von unerfahrenen Soldaten, um seine regulären Truppen zu decken.
Und strategisch?
Strategisch war es die Botschaft, dass Putin bereit ist, zu verhandeln. Zum Glück beugt sich die Ukraine nicht dem Druck. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat eine klare Botschaft ausgesendet, dass es keine Verhandlungen geben werde, bis das gesamte Land befreit ist.
Putin kann die Ukraine nicht verlassen, weil er sonst am Ende wäre.
Das bedeutet, dass es keinen Boden für Verhandlungen gibt.
Putin kann die Ukraine nicht verlassen, weil er sonst am Ende wäre. Und Selenski sowie das ukrainische Volk sind nicht bereit, Kompromisse einzugehen.
Falls es zu einem Zusammenbruch des russischen Regimes kommt: Was kommt danach?
Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Land nicht im gleichen geografischen Rahmen bestehen bleibt. Und es ist auch sehr wahrscheinlich, dass die Prozesse, die 1991 gestoppt wurden – nämlich die Desintegration des Reiches – weitergehen werden. Vergessen wir nicht: Es gab frühere Sowjetrepubliken, die die Sowjetunion verlassen und unabhängige Staaten gebildet haben. Innerhalb Russlands gibt es viele Regionen, die die gleichen Ansprüche hatten.
Wenn der Westen will, dass der Krieg mit der Niederlage von Putin endet. Welche Hilfe muss der Westen jetzt bieten?
Es braucht eine klare Strategie und nicht verschiedene Botschaften, die Putin beim Manövrieren helfen. Zwar sagt der Westen von US-Präsident Joe Biden bis nach Europa, dass er die Ukraine bis zum Sieg unterstützt. Doch wie sieht dieser Sieg aus? Ich will eine klare Definition davon. Ich will hören, dass dies bedeutet, dass die Ukraine wieder das gesamte Gebiet besitzt – inklusive der Krim –, dass die gesamten Reparationen bezahlt werden, und dass die Kriegsverbrechen vor Gericht gebracht werden.
Die Rolle der Schweiz ist sehr fragwürdig.
Wie sehen sie die Rolle der Schweiz? Sie macht keine direkte Waffenlieferung, um das Neutralitätsrecht nicht zu verletzten. Sie hat auch Anfragen Deutschlands zur Wiederausfuhr von Munition, die in der Schweiz hergestellt wurde, abgelehnt.
Es geht nicht nur um Waffen. Es braucht auch logistische Unterstützung – und dies geschieht durch finanzielle Hilfe. Da ist die Rolle der Schweiz sehr fragwürdig. Es geht hier um einen grossen Entscheid. Will man neutral sein angesichts eines Völkermords und Krieg? Neutral zu sein, stellt einen auf die Seite des Bösen. Denn das hilft Putin, seinen kriminellen Krieg weiterzuführen. Ich hoffe, dass der Sinn für Menschlichkeit und der Sinn für zivile Pflichten über kurzfristige finanzielle und geopolitische Interessen überwiegt.
Die Schweiz trägt die Sanktionen mit und hat über 7 Milliarden eingefroren.
Dieses Geld muss konfisziert und für Reparationszahlungen und den Wiederaufbau der Ukraine eingesetzt werden.
2015 haben Sie ein Buch geschrieben und Putins Absichten vorhergesagt, sogar den Krieg. Warum hat man nicht auf ihre Analysen gehört?
Es war eine unbequeme Wahrheit. Man hatte das Gefühl, dass gute Geschäfte die imperialen Ambitionen Putins zurückdrängen würden. Ich hatte da eine andere Meinung. Putin war schon immer im Krieg mit der freien Welt. Das sage nicht ich, Putin selbst hat das mehrmals gesagt. Er lebt in einer Welt, in der die grossen, harten Männer, die Stalins herrschen. Ich will nicht in so einer Welt leben.
Die freie Welt erkennt langsam, dass es keinen Frieden mit Putin gibt.
Die freie Welt erkennt langsam, dass es keinen Frieden mit Putin gibt. Es ist schwarz und weiss, aber anders als im Schach gibt es kein Unentschieden. Wir gewinnen oder er gewinnt.
Das Interview führte Barbara Lüthi.