Die ukrainische Hauptstadt Kiew ist diese Woche wieder unter Beschuss geraten – und zwar genau zu jenem Zeitpunkt, als UNO-Generalsekretär António Guterres bei Präsident Wolodimir Selenski zu Besuch war. Zufall? Eher eine Drohung. Oder, wie es Kiews Stadtpräsident Vitali Klitschko sagte: Russland habe der UNO den Mittelfinger gezeigt. Tatsache ist: Der Raketenbeschuss kam zu einem Zeitpunkt, an dem Kiew als einigermassen sicher galt. Denn aktuell herrscht Krieg vor allem im Osten des Landes. SRF-Korrespondentin Luzia Tschirky befindet sich derzeit in Kiew und berichtet über die aktuelle Lage.
SRF News: Gibt es in Kiew trotz der jüngsten Raketenangriffe so etwas wie einen Alltag?
Luzia Tschirky: Für die Menschen, die den Krieg bisher überlebt haben, geht das Leben einfach weiter. Das ist eine sehr menschliche Reaktion. Und für diese Leute ist es auch wichtig, dass sie eine Art Alltag haben. Denn wenn schon das ganze Leben vom Krieg kontrolliert wird, versucht man trotzdem, in die Hand zu nehmen, was man noch kontrollieren kann.
Aber wirklich einen Alltag kann es unter diesen Umständen nicht geben.
So kehren beispielsweise manche nach Kiew zurück. Sie versuchen hier – möglichst in ihrer Wohnung, in ihrem alten Leben – trotz der Kriegsumstände, die alles andere als normal sind, einen Alltag zu schaffen, soweit das nun einmal geht. So versuchen etwa Café-Besitzer auch, ihren Betrieb wieder zu öffnen. Aber wirklich einen Alltag, das ist klar, kann es unter diesen Umständen nicht geben.
Bereuen diese Rückkehrer nach den jüngsten Raketenangriffen, dass sie wieder in Kiew sind?
Die Menschen, die in den ersten Kriegswochen geflüchtet waren und nun zurückgekehrt sind, und mit denen ich gesprochen habe, bereuen das nicht. Ganz im Gegenteil. Für sie ist es sehr wichtig, zu sehen, wie ihre Wohnung und die Umgebung aussehen, wie es den Nachbarn geht. Oder wie es in der Stadt aussieht, in der sie gewohnt haben?
Vitali Klitscho, der Stadtpräsident von Kiew, stellt sich natürlich weiterhin auf den Standpunkt, dass es hier noch nicht genug sicher sei.
Und sie haben mir auch gesagt, dass die Raketen ja potenziell überall im Land einschlagen könnten – auch ganz im Westen des Landes, wohin viele geflüchtet sind in den ersten Kriegswochen. Deshalb würden sie nicht verstehen, warum hier in Kiew ihr Leben in grösserer Gefahr sei als beispielsweise im Westen des Landes.
Gibt es auch Warner?
Vitali Klitscho, der Stadtpräsident von Kiew, stellt sich natürlich weiterhin auf den Standpunkt, dass es hier noch nicht genug sicher sei. Und er rät den Menschen dazu, noch nicht in die Hauptstadt zurückzukehren. Gerade auch, weil Kiew vor grossen Versorgungsproblemen steht.
Je mehr Menschen zurückkommen, umso mehr Güter müssen den Weg in die Hauptstadt finden. Und dementsprechend versucht man vonseiten der ukrainischen Regierung und der Kiewer Stadtregierung, dass die Zahl der Menschen, die zurückkehren, möglichst klein gehalten wird.
Das Gespräch führte Bettina Studer.