Aus Sicherheitsgründen informiert der ukrainische Präsident seit Beginn der Grossinvasion im vergangenen Februar nicht im Vorfeld über seine Reisen. So kam auch der Besuch in London, im Buckingham Palast und am EU-Gipfel in Brüssel für die Öffentlichkeit überraschend.
Die Gründe für Selenskis Reise sind jedoch weniger überraschend, sondern seit dem 24. Februar vergangenen Jahres ziemlich deutlich: Die Ukraine kann Russland militärisch nur mit Unterstützung aus dem Westen bezwingen.
Gewinner vor Kriegsende
Das grösste Talent von Wolodimir Selenski kam seit Beginn des Angriffskrieges zum Tragen: Seine Fähigkeit, öffentlich aufzutreten und dabei zu überzeugen. In den ersten Tagen und Wochen wusste er nicht nur die ukrainische Bevölkerung davon zu überzeugen, dass er standhaft bleiben wird und sich gegen Russlands Angriff zu wehren weiss, sondern auch die Partner im Westen. Einige darunter gingen davon aus, Kiew werde bei einem Grossangriff Russlands innerhalb weniger Tagen fallen.
Selenski ist es dank der Unterstützung der Öffentlichkeit und dank der Bilder von russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine gelungen, die ungebrochene Unterstützung selbst der skeptischsten und vorsichtigsten Politiker Europas zu sichern. Im Kampf gegen Putin hat Selenski damit gewonnen, noch bevor der Krieg zu Ende ist.
Mit Beginn der russischen Grossinvasion wurde das Aussenministerium in Kiew zu einem der wichtigsten Machtzentren des Landes, und Aussenminister Dmitro Kuleba gehört neben der Armeeführung seither zum innersten Kreis von Selenskis Führungszirkel. Dass die Gespräche mit den ausländischen Partnern erfolgreich verlaufen, zeigte sich auch während Selenskis Europatournee diese Woche. Sowohl bei Kampfjets als auch bei Langstreckenwaffen gebe es Zusicherungen aus dem Westen, erklärte Selenski am Donnerstag bei einer Pressekonferenz in Brüssel.
Waffen für die Front und Bilder für den Willen
Auch wenn die Diplomatie in Brüssel und in London fern der Lebensrealität der meisten Menschen in der Ukraine ist, wissen alle, deren Angehörige an der Front kämpfen, um die Notwendigkeit westlicher Waffenlieferungen.
Auf Unverständnis stossen die Besuche des ukrainischen Präsidenten kaum. Bilder des applaudierenden EU-Parlaments, das dem ukrainischen Präsidenten auf die Worte «Ruhm der Ukraine» mit «Ruhm den Helden» antwortet, geben den Menschen in der Ukraine Zuversicht. Damit stärkt Selenski nicht nur den Durchhaltewillen der Menschen im Krieg, sondern sichert sich selbst grosse Unterstützung in der ukrainischen Bevölkerung.