Die türkische Regierung empfängt heute den russischen Aussenminister Sergej Lawrow. Sie will zwischen Russland und der Ukraine vermitteln, damit die Getreideexporte nach Afrika und in den Nahen Osten trotz des russischen Angriffskriegs erfolgen können. Dabei gebe es aber noch viele ungelöste Fragen, weiss der in Istanbul lebende Journalist Thomas Seibert.
SRF News: Die Türkei hat die Idee eines Getreidekorridors im Schwarzen Meer lanciert – was ist damit gemeint?
Thomas Seibert: Der Minengürtel, der die ukrainischen Hafenstädte vor russischen Angriffen schützt, soll an ein oder zwei Stellen geräumt werden, damit die Getreideschiffe die Häfen anlaufen können. Die Frachter sollen auf ihren Fahrten sodann militärisch eskortiert werden. So soll ein grosser Teil der rund 20 Millionen Tonnen Getreide in ukrainischen Silos auf den Weltmarkt gebracht werden. Sowohl die Ukraine als auch Russland begrüssen die Idee.
Was könnte ihrer Verwirklichung noch im Weg stehen?
Die Kriegsparteien misstrauen sich aufs Äusserste. Beide Seiten haben die jeweils andere im Verdacht, die Situation ausnutzen zu wollen.
Die beiden Kriegsparteien misstrauen sich aufs Äusserste.
Die Ukraine befürchtet, dass die Russen die von Minen geräumten Gebiete für Angriffe nutzen könnten. Russland sagt, die Frachter könnten Waffen in die Ukraine bringen, wenn sie die Häfen für das Beladen mit Getreide anlaufen. Andere ungelöste Fragen betreffen etwa eine mögliche Koordination der Getreidefahrten durch eine Einsatzzentrale der UNO in Istanbul.
Wie geeignet ist die Türkei, um das grosse Misstrauen zwischen der Ukraine und Russland auszuräumen?
Die Türkei ist einer der wenigen Staaten in der Region, der mit beiden Seiten gute Beziehungen hat – so hatten im März Verhandlungen zwischen ukrainischen und russischen Vertretern für eine mögliche Beendigung des Kriegs in der Türkei stattgefunden.
Die Türkei ist einer der wenigen Staaten, der mit beiden Seiten gute Beziehungen hat.
Ausserdem hat das Land eine recht schlagkräftige Kriegsmarine, die durchaus in der Lage wäre, die Eskorten für die Getreideschiffe zu stellen.
Was brächte es der Türkei, wenn sie zur Schutzmacht der Getreidefahrten würde?
Es geht für sie vor allem um aussenpolitisches Renommee. Die Türkei präsentiert sich als einziges Nato-Land, das im Krieg vermitteln kann – ein wichtiges Signal auch an die Nato, mitten im Streit um die Aufnahme von Finnland und Schweden.
Die Ukraine wirft Russland vor, Getreide gestohlen und teilweise an die Türkei verkauft zu haben. Was ist an diesen Vorwürfen dran?
Die Türkei hat die Vorwürfe auf jeden Fall nicht dementiert. Demnach sollen türkische Abnehmer von den Russen stark verbilligtes Getreide gekauft haben, das deshalb so günstig war, weil es aus ukrainischen Silos gestohlen war. Auch deshalb wäre es für die Türkei wichtig, eine Lösung beim Getreideexport zu ermöglichen – um sich aus der peinlichen Situation zu befreien, Geschäfte mit von Russen gestohlenem Getreide zu machen.
In Ankara wird nun also Russlands Aussenminister Lawrow erwartet – wieso fehlt die ukrainische Seite bei den Gesprächen?
Die Türkei sagte, sie habe die Pläne ausführlich mit Präsident Wolodimir Selenski besprochen, ausserdem verfolge die ukrainische Botschaft in Ankara das Ganze sehr aufmerksam.
Das Gespräch führte Vera Deragisch.