Erfolg der ukrainischen Gegenoffensive: Nach zweieinhalb Monaten zeigt die von der Ukraine gestartete Gegenoffensive nach eigenen Angaben Wirkung. Nach wochenlangen Kämpfen haben sie die russischen Besatzer aus der Gemeinde Robotyne im südukrainischen Gebiet Saporischja verdrängt. «Nach der Befreiung von Robotyne rücken unsere Truppen südöstlich davon weiter vor», sagte am Montag Vizeverteidigungsministerin Hanna Maljar gemäss einer Mitteilung. Der russische Widerstand bleibe aber heftig. Nächste Ziele in Richtung der Stadt Tokmak seien Nowoprokopiwka und Otscheretuwate. Auch im ostukrainischen Gebiet Donezk rückten die ukrainischen Truppen nach eigenen Angaben vor. Militärexperte und «NZZ»-Journalist Georg Häsler warnt im Gespräch mit SRF aber davor, diese kleinen Erfolge als grossen Durchbruch im Krieg zu werten.
Strategisch günstige Position: «Es gibt nun günstige Möglichkeiten, hinter gewisse russische Linien zu kommen. Aber eine grosse russische Linie steht noch bevor», so der Militärstratege. Es sei jedoch bekannt, dass solche Gegenoffensiven gegen vorbereitete Stellungen lange dauern könnten, das habe beispielsweise auch der Kampf der Alliierten gegen die Wehrmacht 1944 bei Monte Cassino gezeigt. Die Alliierten brauchten vier Monate, bis sie gegen die deutsche Wehrmacht durchbrechen konnten.
Taktikwechsel zum Durchstoss ans Asowsche Meer: Die ukrainische Armee habe einen Taktikwechsel vorgenommen, sagt Häsler. Zunächst habe sie mit einem mechanisierten Stoss möglichst schnell ans Asowsche Meer vordringen wollen. Sie sei aber an der sogenannten Surowikin-Linie der Russen steckengeblieben. An der Surowikin-Linie haben sich die Russen auf mehr als 800 Kilometern Länge entlang der gesamten Front quasi eingegraben. Sie haben Minenfelder, Panzergräben und spitze Betonpyramiden – sogenannte Drachenzähne, die als Panzersperren dienen – angelegt. «Anstatt weiter auf grosse, mechanisierte Panzerverbände zu setzen, setzten die Ukrainer nach dem Taktikwechsel auf Infanterie, die nicht auf Sperren gingen, sondern in bebautem Gebiet kämpfte.» Zwar habe die Ukraine eigentlich nicht auf bebautem Gebiet durchstossen wollen, weil es dort viel mehr Kraft brauche.
Kräfteverhältnis zwischen Angreifern und Verteidigern: Grundsätzlich werde damit gerechnet, dass ein Angreifer dreimal mehr Kraft braucht als einer, der sich verteidigt, so Häsler. Angriffe in bebautem Gebiet hingegen forderten noch mehr Kraftaufwand; das Verhältnis könne je nach Situation auf 8:1 ansteigen. «Das wollte die Ukraine nicht, weil sie Leben schonen will», sagt Häsler.
Panzer als Hilfe des Westens: Gemäss Häsler hat die Ukraine die Stärke der Panzer aus dem Westen nicht in allen Belangen voll ausnutzen können; die Geschwindigkeit und die Feuerkraft konnten nicht entsprechend ausgeschöpft werden, aber die Schutzwirkung der westlichen Panzer habe gewirkt. «Die feindlichen Treffer haben die Panzer nicht zerstört und die Teams konnten sich retten. Es gibt auch Anzeichen dafür, dass die liegen gebliebenen Panzer abgeschleppt werden konnten», sagt der Experte.
Drei Entwicklungen möglich: Militärexperte Häsler zählt drei Möglichkeiten auf, wie es in diesem Krieg nach seiner Einschätzung weitergehen könnte. Erstens: Der Abnutzungskampf geht weiter. Zweitens: Diese günstige Situation führt zu weiteren Eroberungen von Dörfern. Drittens: Es kann auch eine Überraschung, einen vollen Erfolg für die Ukraine geben. Dafür allerdings, so Häsler, gebe es im Moment keine Anzeichen.