Russische Streitkräfte sollen in der Nacht das grösste Atomkraftwerk in Europa angegriffen haben. Jetzt brennt auf dem Gelände des AKW Saporischschja im Süden der Ukraine offenbar ein Nebengebäude. Die Lage beobachtet auch Fredy Gsteiger, bei SRF spezialisiert auf Diplomatie. Er sagt: Derzeit ist die Situation unter Kontrolle.
SRF News: Für wie gefährlich halten Sie die Situation beim Atomkraftwerk Saporischschja?
Fredy Gsteiger: Grundsätzlich besteht im Krieg für AKWs eine sehr grosse Gefahr – deshalb hielt die Internationale Atomenergiebehörde IAEA diese Woche eine Sondersitzung ab. Sie rief dazu auf, kriegerische Handlungen rund um AKWs in der Ukraine zu verhindern.
Sollten die Schutzhüllen des Reaktors durch Beschuss durchbrochen werden, könnte ein riesiges Gebiet verstrahlt werden.
Vergleiche mit der Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986 sind allerdings problematisch: Heutige AKWs – auch in der Ukraine – sind viel besser geschützt als damals. Wenn allerdings die Schutzhüllen des Reaktors durch Beschuss durchbrochen werden sollten, besteht ein enormes Risiko, dass ein riesiges Gebiet verstrahlt wird.
Die IAEA sagt, es sei keine erhöhte Strahlung messbar. Ist das also ein Zeichen der Entwarnung?
Im Moment ja. Offenbar geriet durch die Kämpfe ein Nebengebäude des AKW in Brand. Er scheint weitgehend gelöscht, die Reaktoren werden heruntergefahren.
Die Reaktoren werden heruntergefahren.
Offenbar wurden auch die Kämpfe rund um die Atomanlage zumindest vorübergehend eingestellt. Trotzdem drückte die IAEA ihre Besorgnis aus und löste den 24-Stunden-Krisenmodus aus. Allerdings kann die Behörde bloss beratend tätig sein.
Wieso greifen russische Truppen überhaupt ein AKW an?
Dazu gibt es verschiedene mögliche Erklärungen. Es könnte sich um einen Präzisionsangriff der Russen handeln, bei dem bewusst nicht der Reaktor getroffen werden sollte, das AKW aber trotzdem heruntergefahren werden muss. Schliesslich produziert das AKW Saporischschja bis zu einem Viertel des in der Ukraine verbrauchten Stroms.
Es könnte sich um einen Präzisionsangriff der Russen handeln, damit das AKW heruntergefahren werden muss.
Möglich ist auch, dass das AKW-Gelände unabsichtlich getroffen wurde – schliesslich hat man in den letzten Tagen in der russischen Kriegsführung zahlreiche Fehler und Pannen festgestellt. Nicht völlig unmöglich ist auch die wohl irritierendste Möglichkeit: In Moskau gibt es überhaupt keine Skrupel mehr und man riskiert im Krieg in der Ukraine auch katastrophale Kollateralschäden.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.