In Russland hat Wladimir Putin jeden organisierten Widerstand erstickt. Doch in den letzten Wochen hat das Regime die Schrauben weiter angezogen. Inzwischen können Russinnen und Russen wegen der kleinsten Verstösse, wegen früherem Aktivismus oder ganz per Zufall die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich ziehen.
Dies illustriert ein Video, das in staatsnahen Medienkanälen verbreitet wurde. Es zeigt eine Szene aus einer angesagten Bar im Herzen Moskaus, die Gäste singen bei einem hymnischen Pop-Lied mit. Auf den ersten Blick ist es eine feuchtfröhliche Partyszene. Doch darum stehen Polizisten in Montur, einer von ihnen ruft den Bargästen zu, sie sollten lauter singen. Das Lied ist ein patriotischer Schlager, die Band, von der es stammt, unterstützt Putin und die «Spezialoperation» gegen die Ukraine bedingungslos.
Unabhängige russische Medien liefern den Kontext: Am vergangenen Wochenende stürmten Polizisten zwei Lokale in Moskau, den Betreibern wird vorgeworfen, Geld für die ukrainische Armee gesammelt zu haben. Die Angeschuldigten weisen dies zurück. Augenzeugen bestätigen aber, dass auch die unbescholtenen Gäste von den mit Hammern und Elektroschockern bewaffneten Polizisten dazu gezwungen wurden, sich teilweise auszuziehen, Türen mit «Z»-Symbolen zu beschmieren, die für den Angriff auf die Ukraine stehen, und eben zu singen. Mehrere Dutzend Gäste wurden anschliessend zur Befragung auf den Polizeiposten mitgenommen.
Es sind nicht die einzigen Festnahmen, die in Russland derzeit zu Reden geben. Diese Woche wurden mehrere führende Figuren der Menschenrechtsorganisation Memorial verhaftet. Memorial, das im Dezember mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, war eigentlich schon vor über einem Jahr von den russischen Behörden verboten und aufgelöst worden. Die vor allem betagten Memorial-Mitglieder, die festgenommen wurden, hatten ihren Aktivismus schon lange weitgehend sistiert.
Repression läuft auf Hochtouren
Die Verhaftungswelle passt in ein Muster: In Kriegszeiten geht Wladimir Putins Repressionsapparat gegen alles und alle vor, die mit den Positionen des Regimes nicht auf Linie sind.
So wurde anfangs März ein alleinerziehender Vater verhaftet, nachdem seine Tochter im Zeichenunterricht Bilder gemalt hatte, auf denen ukrainische Familien von russischen Raketen bedroht werden. Die Lehrerinnen der Tochter hatten sich bei den Behörden gemeldet, die Sechstklässlerin wurde in ein Kinderheim gebracht. Der Vater wartet unter Hausarrest auf seinen Gerichtstermin wegen «Diskreditierung der Streitkräfte».
Am Mittwoch wurde der gesamten Familie eines Moskauer Klima-Aktivisten ein Einreiseverbot nach Russland ausgestellt. Es gilt 50 Jahre lang. Dem Aktivisten, seinem Vater und seinen Brüdern wurde zuvor die russische Staatsbürgerschaft entzogen, nun sind sie staatenlos.
Sippenhaft, Denunziationen, erzwungene Bekenntnisse zur staatlichen Politik. Für Putins Kritiker werden die Züge eines totalitären Systems immer deutlicher – eines Systems, in dem die Ideologie des Regimes jeden Lebensbereich durchdringt. Das bedeutet, dass im heutigen Russland keiner mehr vor Repressalien geschützt ist. Die Gäste in der Moskauer Bar, die an einem Freitagabend etwas trinken wollten, können ein Lied davon singen.